Evangelium auch für Israel - oder: Altes Testament und Volk Gottes nach Jesus Christus
Das Verhältnis von Judentum und Christentum war seit den Tagen Jesu eine Frage von Auseinandersetzungen und rückt wegen seiner grundlegenden Bedeutung bis heute immer wieder in den Mittelpunkt theologischer Diskussionen, neuerdings wieder im Zusammenhang der jüdischen Proteste gegen die Karfreitagsbitten der überlieferten Liturgie der katholischen Kirche.
Viele, darunter auch viele „christliche“ Theologen, tun heute so, als sei die Jahrtausende alte liturgische Praxis und die Verkündigung der katholischen Kirche im Hinblick auf die jüdische Religion nicht angemessen oder gar falsch gewesen. So wurde wieder in einem Leitartikel der von den deutschen Bischöfen subventionierten Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ vom 23. 8. 07 (Rudolf Zewell: „Das jüdische Volk – verblendet?“) die Forderung zur Sprache gebracht, dass ein „Passus“ „aus der Karfreitagsliturgie der alten Messe genommen werden“ solle, weil „von der ‚Verblendung‘ des jüdischen Volkes und davon, dass es ‘in Finsternis wandle’, die Rede sei. Zugleich wurde mehr oder weniger offen „aktiver Judenmission“ das Recht oder zumindest die Notwendigkeit abgesprochen, „damit deren eigener Heilsweg anerkannt“ werde. Auf ähnliche Äußerungen, die heute unter „Kirchenmännern“ nicht selten sind, haben wir schon früher hingewiesen (z.B. Kard. Lehmann in: Beiträge 65 und 67: Keine Umkehr und keine Taufe mehr notwendig?, Beiträge 68: Grenze der Mission?).
Christen, aber auch Juden, sind aufgerufen, sich mit der Berufung Israels, mit den Verheißungen und der geschichtlichen Realität Israels und seiner Religion auseinanderzusetzen. Sowohl die Heilige Schrift des Alten wie des Neuen Testaments als auch religionsgeschichtliche Tatsachen können wichtige Antworten geben und zu einem besseren Verständnis der theologischen Grundfragen beitragen, sind aber heute oft viel zu wenig bekannt.
Theologische Grundfragen
„Das Heil kommt von den Juden“ (Joh. 4,22). Durch die besondere Berufung des Gottesvolkes des Alten Bundes als Wegbereiter für die Berufung der anderen Völker hat Israel auch für die katholische Kirche eine besondere Bedeutung.
Dabei kommt natürlich auch die Frage ins Spiel: Wie aber verhält es sich mit Israel und seiner Religion in der Zeit nach Jesus Christus? Gilt der Alte Bund weiterhin? Woher kommt das heutige Judentum und bis wohin hat es sich seit den Tagen Jesu verändert? Wie steht es mit den alttestamentlichen Verheißungen? Ist ein Neuer Bund für Israel überflüssig? Ist christliche Verkündigung bei Juden notwendig und sinnvoll, oder gibt es für Juden auf Grund des Alten Bundes Gottes mit Israel auch nach Christus einen anderen Heilsweg als für die übrigen Menschen?
Unterschiedliches Selbstverständnis
Wer das heutige Judentum anblickt, erkennt rasch, dass es unter gläubigen Juden große Unterschiede im religiösen Selbstverständnis und in der theologischen Grundhaltung gibt. Die strenggläubigen, „orthodoxen“, Juden halten die religiösen Gesetze und Überlieferungen für unverzichtbar, liberale „Reformjuden“ anerkennen von den Gesetzen nur die eigentlichen Moralgesetze als verbindlich an und lehnen oft den Glauben an die Auferstehung des Leibes und ewige Bestrafung oder Belohnung nach dem Tode ab. Dazwischen stehen die sogenannten konservativen Juden, welche die Gesetze nach Möglichkeit beobachten, aber auch je nach Gegebenheiten anpassen.
Ähnlich große Unterschiede gab es schon zur Zeit Jesu. Denken wir nur an die Auseinandersetzungen zwischen Pharisäern und Sadduzäern im Hinblick auf die Auferstehung der Toten usw. (vgl. Apg. 23,7f.). Ursache für solche Unterschiede in religiösen Auffassungen ist das Fehlen einer letzten lehramtlichen Autorität, wie sie etwa die katholische Kirche im Papsttum besitzt.
Das rabbinische Judentum
Das Judentum entwickelte sich somit in der Auseinandersetzung verschiedener theologischer Schulen, die sich um bedeutende Rabbis herauskristallisierten. Zur Zeit Jesu waren die berühmtesten Rabbis Schammaj und Hillel, die oft sehr verschiedene, sogar gegensätzliche Auffassungen vertraten, wobei Hillel meistens gemäßigter war.
Nach der Zerstörung des Tempels um 70 n.Chr. suchten die Lehrer den Gesetzesstoff in einem Kodex zusammenzufassen. so entstand die Mischna ("Lehre"), zu der dann im 4. bis 6. Jahrhundert verschiedene Erklärungen kamen, die Gemara, die beide zusammen einen Teil des Talmud, übersetzt „Unterweisung“, bilden, wobei es zwei unterschiedliche Ausprägungen, die babylonische und die palästinensische Gemara, gibt, entsprechend den beiden damals bedeutenden rabbinischen Schulen, die eine in Babylon im heutigen Irak, die andere in Jamnia 20 km südlich des heutigen Tel Aviv.
Die Mischna enthält in sechs Abteilungen Anweisungen zum Landbau, zur Ehe, zu Zivil- und Kriminalfragen, zu Gottesdienst und Ritual sowie zu den Reinigungen. Meist werden die Aussagen gebildeter Rabbis einfach nebeneinandergestellt und so Präzedenzfälle aufgelistet. Die gesetzlichen Bestimmungen gehen dabei sehr ins Einzelne: „Ein am Festtage gelegtes Ei darf, wie die Schule Schammajs sagt, gegessen werden, und, wie die Schule Hillels sagt, nicht gegessen werden. Die Schule Schammajs sagt, Sauerteig in Olivengröße, gesäuertes Brot in Dattelgröße, die Schule Hillels sagt, beides in Olivengröße“ (Abhandlung Betzah, Yom Tob, Kap. I, Mischna 1, zitiert nach der Ausgabe: Der Babylonische Talmud, neu übertragen von Lazarus Goldschmidt, Berlin 1929).
Angesichts eines Überquellens an (umstrittenen) Vorschriften sind die Auseinandersetzungen Jesu mit den Schriftgelehrten Seiner Zeit, aber auch die Unsicherheit in der Auslegung durch die verschiedenen Rabbis und damit die großen Unterschiede unter Juden selbst, verstehbar.
Der Talmud ist also nicht wie ein Gesetzbuch oder wie ein Katechismus aufzufassen, der zusammenfassend und kategorisch das enthält, wozu die Juden verpflichtet wären, sondern er ist eine Art Protokoll des Prozesses der Erläuterungen zum mosaischen Gesetz. Zu Mischna und Gemara treten noch die Tosephtha (wörtlich: „Zusätzliches“) und die Targumim, aramäische Übersetzungen und Umschreibungen des Alten Testaments, als das Hebräische aufhörte, die normale Umgangssprache unter den Juden zu sein. Diese Targumim legen den biblischen Text sehr frei in Paraphrasen, Zusätzen und Abschweifungen aus.
Ergänzend zum Talmud treten die Midraschim, die rabbinischen Kommentare zu den hebräischen Texten. Midrasch („Forschung“) bezeichnet die jüdische Methode der Schriftauslegung, die im heiligen Text immer noch einen tieferen Sinn als den bloß wörtlichen sucht und mit dem geistigen Sinn in der christlichen Auslegung verglichen werden kann, die somit auch im jüdischen Sinn durchaus berechtigt und angebracht ist und die immer wieder im Neuen Testament, z.B. in den Schriften des heiligen Paulus, zum Vorschein kommt.
(Fortsetzung folgt)
Thomas Ehrenberger
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