Die Gottesfrage

Katechesen (1981) von S.E. Dr. Günther Storck


Teil 14

Ich will noch einmal die große Bedeutung der Erkenntnisfrage im Zusammenhang mit der moralischen Frage erläutern.
Wir stehen damit auch bei der Behandlung der Frage: Was ist der Grund für das sittliche Sollen, für die moralischen Gebote? Das ist der Kern der Gottesproblematik.
Und ich hatte Ihnen bei der Behandlung dieses Punktes den Hinweis gegeben, dass wir dort, wo wir die objektive Wertordnung erfassen und wo wir uns einlassen auf diese objektive Wertordnung und wo wir die Liebe als den höchsten Wert dieser Wertordnung bejahen, da haben wir die Erkenntnis Gottes.
Und wir sind von da aus übergegangen und weiter gegangen zu der Frage nach dem Grund unseres Erkennens, nach dem Rechtfertigungs-Grund unseres Erkennens.
Gibt es überhaupt ein echtes Erkennen, ein wahres Erkennen heißt das, und was ist der Grund dieses unseres Erkennens?
Wenn Sie den Zusammenhang, den ich beim letzten Mal, aber auch früher schon dargelegt hatte, noch einmal beachten wollen - dieser Zusammenhang ist ganz wichtig: Ich hatte immer wieder betont: Wir können die Wahrheit theoretisch nur erkennen, wenn wir sie moralisch erkennen - und anerkennen! Hier ist erkennen und anerkennen nicht von einander getrennt! Wer moralisch nicht will, wer nicht liebt im sittlichen Sinne, kann die Erkenntnis der Wahrheit nicht haben!
Und das ist der Grund auch für diese Ordnung der Behandlung dieser Frage. Wir mussten erst vom sittlichen Erkennen ausgehen und dann konnten wir die Frage behandeln, ob es überhaupt auch ein theoretisches Erkennen gibt und was der Grund dieses theoretischen Erkennens überhaupt ist, der Rechtfertigungs-Grund. Der Rechtfertigungs-Grund ist der, dass wir die Wahrheit selbst erkennen können! Uns weil wir sie selbst erkennen können, und weil sie will, dass wir sie erkennen, deshalb gibt es überhaupt eine echte Erkenntnis!
Achten Sie einmal darauf, dass man die ganze Wahrheit lieben muss, um sie dann auch ganz erkennen zu können! Wer die Voraussetzung nicht will, kann auch die Auswirkung nicht haben und gewinnen.
Denken Sie einmal an die fatalen Auswirkungen, die es hat, wenn man sagen wollte: ja, ich will zwar die moralische Erkenntnis, etwa der moralischen Gebote, der moralischen Gesetze, aber ich will nicht selbst moralisch handeln. Wenn man das eine will, das andere aber nicht will, dann kann man die Wahrheit im Moralischen auch nicht erfassen! Wenn man sagen wollte, ich will zwar erkennen, was Treue ist, ich will aber selbst nicht die sittliche Treue einhalten und erfüllen, dann kann man natürlich auch im Vollsinn das, was Treue ist, nicht erkennen!
Ich möchte Sie besonders darauf hinweisen: Stellen Sie sich einmal eine Institution vor, die allein für Fragen der Erkenntnis da ist, in der aber die Moral überhaupt keine Rolle spielt. Und das ist ja im Grunde heute und schon lange an den Universitäten der Fall! Die Auswirkung, die furchtbare, die katastrophale Auswirkung ist die, dass man, wenn und weil man nicht moralisch handelt und die moralischen Gesetze nicht anerkennt, die moralische Wahrheit nicht will, deshalb auch die Erkenntnis der Wahrheit nicht erreicht!
Hier müsste man erst einmal, wenn man die echte Erkenntnis will, eine sittlich-asketische Voraussetzung schaffen, eine asketische Vorbildung durchlaufen, dann könnte man im echten Sinne erkennen! Die Universitäten, wie sie sich heute und lange schon präsentieren, sind daran nicht interessiert. Die Auswirkung ist, dass man die Erkenntnis auch nicht erreicht und dass man, weil man die Erkenntnis nicht erreicht, natürlich auch keine Wissenschaft der Erkenntnis gewinnen und erreichen kann!
Und man trifft deshalb an den wichtigsten Fakultäten dieser Universitäten heute immer wieder - und zwar sehr ausdrücklich, sehr prägnant - die Behauptung, dass es eine Erkenntnis der Wahrheit überhaupt nicht gibt! Stellen Sie sich einmal einen solchen Widersinn vor: Ein Institut ist geschaffen für die Erkenntnis der Wahrheit und leugnet in ganz wesentlichen Fächern und in der überwiegenden Zahl der Vertreter dieser Fächer, dass es eine Erkenntnis überhaupt gibt! Das ist so ähnlich, als wenn der Staat sich große Mühe und die Ausgabe großer Gelder auferlegte für die Medizin, und die Vertreter dieser Medizin sagen würden, eine Gesundheit, für die die Medizin da wäre, gibt es überhaupt nicht, es gibt nur kranke Menschen. Nicht wahr, ein närrischer Widersinn! Aber so ist es tatsächlich, die Leute begnügen sich und finden es recht und gut und sinnvoll, solche albernen und widersprüchlichen Dinge zu behaupten!
Wenn man die Wahrheit aber nicht erreicht und wenn man die Wahrheit nicht erkennt, wenn man keine Erkenntnis gewinnt an den Fakultäten und in den Universitäten, dann wird aber notwendig die ganze Universität ein Mittel, die Wahrheit zu leugnen. Ein Mittel, immer raffiniertere Argumente zu finden, durch die man scheinbar begründen und rechtfertigen kann, dass es keine Wahrheit gibt! Und so ist es heute. Die Universitäten sind die raffiniertesten Institute, die den Menschen den Glauben und die Moral nehmen. Und deshalb ist es kein Wunder, dass hier die Unzucht grassiert, und ebenfalls kein Wunder, dass hier die Revolution verbreitet wird!
Ich will es noch einmal sagen: Wenn man nicht die ganze Wahrheit liebt, gewinnt man auch nicht die ganze Erkenntnis der Wahrheit! Wenn man die Erkenntnis der Wahrheit auch im Theoretischen will, muss man sie auch im praktischen Leben wollen und bejahen, und das heißt einschlussweise: Man muss moralisch handeln!
Negativ - und das darf ich auch noch einmal ganz prägnant sagen: Wer sagt, es gibt keine Erkenntnis der Wahrheit, der leugnet ebenso ausdrücklich, dass es moralische Gesetze gibt! Sie erfahren das immer wieder im Alltag, diese bestürzende Tatsache, etwa in Gesprächen mit modernen Menschen und mit Modernisten auch, mit "Gläubigen", die nicht mehr wissen, was der Glaube im Ernst und in der Wahrheit sagt und lehrt und will. Sie bemerken, dass diese Menschen gar nicht ansprechbar sind. Die haben ganz andere Theorien. Der Grund dafür liegt darin, dass sie nicht die Wahrheit bejahen, dass sie die Wahrheit nicht lieben, und zwar im ganzen, im umfassenden, im vollkommenen Sinne.
Denn wer falsche theoretische Aussagen macht, der macht sie deshalb, weil er falsche moralische Einstellungen hat und sie lebt. Hier noch einmal die fundamentale Voraussetzung, die es nötig macht, dass ich erst die rechte Liebe zur Wahrheit habe und in der Liebe zur Wahrheit auch die moralischen Forderungen der Wahrheit anerkenne und praktiziere! Und dann kommt die Erkenntnis der Wahrheit von selbst.
Sie sehen hier: Ich brauche keine Wissenschaft zu treiben, um die Erkenntnis der Wahrheit zu haben! Der einfache Mensch - und so erfährt man es ja auch tagaus, tagein immer wieder -, der einfache Mensch, der keine Theologie studiert hat, hat die Erkenntnis der Wahrheit und des Glaubens und vor allem die Erkenntnis Gottes; der Pseudo-Gebildete, der Theologe, der Gott nicht liebt, der die Wahrheit nicht liebt, der kommt trotz seiner Theologie auch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit des Glaubens und der Wahrheiten des Glaubens. Hier haben sie den wahren Sachverhalt und die wahre Begründung für diese Merkwürdigkeit, die immer wieder auf Unverständnis trifft und zu rätselhaftem Staunen führt, so dass man sagt: Diese Menschen haben doch Theologie studiert, wie kommt es? Ja, man muss sagen, gerade weil sie Theologie studiert haben, ist die Gefahr, abzuirren und den Glauben aufzugeben, noch viel größer!
Entscheidend ist: Ich muss, wenn ich Theologie studiere, den vollkommenen Glauben mit allen einschlussweise geforderten Bedingungen anerkennen und praktizieren! Dort, wo der Glaube nicht mehr gelebt wird, ist auch eine echte Theologie nicht möglich!
Ich darf Sie noch einmal auf diese große Auseinandersetzung im 12. Jahrhundert zwischen dem heiligen Bernhard und seinem Gegner Abälard hinweisen. Der heilige Bernhard vertrat die rechte Auffassung. Er sagte: Theologie nur unter der Voraussetzung des monastischen Lebens! Und sein Gegner Abälard, ein "moderner" Theologe, vertrat die ganz entgegengesetzte Theorie. Er sagte, die Theologie ist Wissenschaft, hat mit dem Glauben nichts zu tun, ist völlig unabhängig vom Glauben, unabhängig vom monastischen Leben. Und dann entsteht eine "Wissenschaft" à la Küng, à la Rahner, wo man alles behaupten kann und das Gegenteil! Sic et non - ja und nein zugleich: Entweder-und -oder!
Sie brauchen nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, wie das gerade, diese Auffassung von "Wissenschaft", überall verbreitet ist und die Köpfe und die Herzen in schlimmster Weise, katastrophal geradezu, gefährdet!
Aber uns geht es jetzt nicht um die Gefährdung, uns geht es um die rechte Auffassung und um die Wahrheit, die Erkenntnis der Wahrheit, die gerade da eine wichtige Rolle spielt, wo ich Gott liebe, wahrhaft und ganz liebe. Ein bekannter Autor hat einmal gesagt, mit großem Recht gesagt: Sage mir, was du liebst, und ich sage dir, was du erkennst!
Der religiöse Mensch, der sittlich handelt, der die Wahrheit wahrhaft erkennen will, der muss Gott lieben. Er muss Gott lieben, das heißt ja dasselbe wie: die Liebe lieben! Dann erkennt er auch die Liebe und hat Anteil an der Wahrheit! Sonst, außerhalb und unabhängig von dieser Einstellung, kann man die echte Erkenntnis, die Erkenntnis Gottes, nicht gewinnen, kann man auch die Gewissheit der Erkenntnis nicht begründen!
Hier sehen Sie die überragende Bedeutung der religiösen Einstellung und der moralischen Einstellung! Hat man die nicht, kann man auch nicht in der rechten Weise Wissenschaft treiben! Und wenn man es nicht in der rechten Weise tut, dann wird die "Wissenschaft" in Anführungszeichen die größte Gefahr für den Einzelnen und zugleich für die Gesellschaft!
Ich will jetzt noch einmal bei dieser Frage des Erkennens verweilen und Ihnen noch einen verschärften Aspekt und eine Perspektive dafür gerade eröffnen, dass Sie sehen, was hier der entscheidende Unterschied ist.
Sie kennen vielleicht das aus der Antike von Platon stammende große Gleichnis. Platon bringt folgendes Beispiel, wenn Sie das einmal bitte mitvollziehen wollen: Er führt aus, dass Menschen in einer Höhle leben, und zwar mit dem Rücken zum Eingang. Vom Eingang fällt etwas Sonnenlicht in die Höhle, und dieses Licht wirft von den Menschen, die angefesselt sind, einen Schatten auf die dem Eingang gegenüberliegende Wand. Jetzt nehmen die Menschen durch das Sonnenlicht, das in die Höhle dringt, einen Schatten auf der gegenüberliegenden Wand wahr. Weil sie das Tageslicht nicht kennen, meinen sie, diese Schatten, die das Sonnenlicht von den angebundenen Personen wirft, seien schon die wahre Realität. Und dann führt Platon aus: Würde man diese Menschen losbinden, dann würden sie vielleicht sich einmal umsehen, sie würden den Eingang der Höhle wahrnehmen und würden das Sonnenlicht, das durch den Eingang der Höhle dringt, auch wahrnehmen. Aber, weil sie es nicht wahrnehmen können - ihre Augen sind überfordert -, reiben sie sich die Augen, blinzeln und wenden sich wieder erschrocken ab, weil sie das Licht nicht ertragen können.
Das ist ein sehr schöner Hinweis, der uns klar machen kann, dass - und so meint es Platon ja auch -, dass wir in der alltäglichen Welt mit all den Dingen, die uns umgeben, mit all der Erkenntnis auch der Dinge und Werte, die uns normalerweise umgeben, noch in einer Welt der Schatten, der Schattendinge verweilen und verhaftet sind. Und Sie sehen vielleicht hier: die Parallele zum religiösen Phänomen der Umkehr, der Abkehr von der Sünde, der Hinwendung, der Zuwendung zu Gott ist hier unmittelbar gegeben.
Was meint Platon? Man muss, wenn man das Licht der Sonne erfassen will, eine ganz mühsame Einübung und Umgewöhnung vornehmen. Man muss sich loslösen von den Fesseln, die einen gebunden halten. Man muss sich vom Dunkel abwenden direkt zum Licht, und erst dann kann man das Licht wahrnehmen.
Und das ist ja alles nur Gleichnis für die wahre Realität: Die Abwendung von der sinnlichen Welt, die uns umgibt. Wir haben wiederholt auch in anderen Predigten davon gesprochen: diese sinnliche Welt ist ja gar nicht die wahre Welt! - Die übersinnliche Welt ist gerade die eigentliche Welt, und hier gerade das Entscheidende: Gott, die Erkenntnis des Lichtes Gottes selbst!
Aber um dieses Licht zu gewinnen, um die Erkenntnis des Lichtes Gottes zu gewinnen, bedarf es einer ganz erheblichen und tief greifenden Umwendung und Abkehr von all dem, was das normale Dasein so wesentlich prägt und ausmacht! Ich denke, Sie können sich das selbst vorstellen! Schauen Sie nur in der Umwelt herum bei Menschen in Ihrer Umgebung: An was hängen die Menschen ihr Herz, was nimmt sie gefangen? Dann sehen Sie, dass es zur Erkenntnis Gottes, zur Erkenntnis des Willens Gottes, zum sittlichen, zum religiösen Leben gar nicht kommen kann! "Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz!" (Mt. 6,21), sagt die Bergpredigt. Diese Menschen haben ihr Herz an diese niedere Welt gehängt und geheftet, und deshalb verweilen sie auch dort! Wenn sie zu Gott kommen wollten, dann müssten sie sich lösen und umkehren und umwenden! Sie müssten sich umwenden, und erst nach dieser erheblichen Anstrengung, die das erfordert, könnten sie das Licht der Sonne, das Licht Gottes selbst erfassen und sehen!
Und dann erst werden wir das Licht Gottes selbst sehen, das Licht der Wahrheit! - Sie bemerken sicher, dass dies zugleich auch fundamentale biblische Aussagen sind! Lesen Sie vielleicht einmal Partien des Johannes-Evangeliums oder den ersten Johannes-Brief: Hier finden Sie immer wieder die Aussage "Gott ist Licht"!
Die Menschen begnügen sich aber in der Regel, in der Helligkeit des Lichtes andere Dinge wahrzunehmen, feststellen zu können! Der Physiker etwa, der Mediziner, der Naturwissenschaftler oder wer es auch immer sei! Sie mühen sich nur um Erkenntnisse, die sie im Lichte oder unter Voraussetzung des Lichtes gewinnen können! So, wie wenn ich sagen wollte, wenn ich bei Tag lebe und im Licht der Sonne verschiedene Dinge wahrnehme: Ich sehe einen Schrank, ich sehe einen Baum, ich sehe einen Strauch, ich sehe einen Menschen. Ich kann aber den Menschen, den Baum, den Strauch, eine sinnliche Realität nur erkennen unter der Voraussetzung, dass es überhaupt Licht gibt! Das Licht schafft die Helligkeit, in der ich andere Dinge auch wahrnehmen und sehen kann!
Der Mensch wendet sich in der Regel aber nicht dem Lichte direkt zu, der Sonne als der Quelle der Helligkeit. Ebenso genau auch der Wissenschaftler. Er sieht nur auf die Dinge, und er erkennt und will nur die Dinge erkennen, die man im Lichte der Wahrheit erkennen kann, aber er wendet sich nicht der Quelle der Wahrheit, der Quelle des Lichtes, Gott selbst zu! Und das ist gerade das Entscheidende, was man braucht, um wahrhaft erkennen zu können, dass es eine echte Erkenntnis gibt!
Man muss die Quelle des Lichtes selbst erfassen, man muss Gott, die Wahrheit, die Liebe selbst erfassen. Erst dann kommt die Frage nach der Gewissheit, die Frage nach dem Grund unseres Erkennens zu einer Lösung und zu einer gerechtfertigten Lösung! 

(Fortsetzung folgt)

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