Die Bekehrung des Alphons Ratisbonne

"Durch Maria zu Jesus!", lautet eine alte katholische Weisheit. Die Mutter Jesu ist die Mutter aller Katholiken, welche ihnen in allen ihren Sorgen und Nöten beisteht und welche sie sicher auf dem rechten Weg der Frömmigkeit führt und erhält.
 
Wie Maria die Menschen zu Jesus hinführt, zeigt sich immer wieder in der Geschichte der Kirche. Auch die Gebrüder Ratisbonne, welche vor mehr als 150 Jahren durch Mariens Hilfe und wunderbare Fürsprache den Weg vom Judentum zu Jesus Christus finden durften, sind ein Beispiel dafür, daß Maria wirklich der Stern im Meere ist, der uns selbst in Gottesferne und tiefer Nacht den Weg zum wahren Ziel des Menschen weist, wenn der Mensch sich nur aufmacht, zum Himmel zu blicken.


Theodor Ratisbonne, der ältere der beiden Brüder, der sich schon vor Alphons zum katholischen Glauben bekehrte, Priester wurde und sich dem Ziel widmete, "an der geistigen Wiedergeburt der Juden zu arbeiten", schreibt: "Die Marienverehrung ist, wenn sie tief und sinnvoll durchgeführt wird, ein Indiz des wahren Glaubens, ist Vorbedingung für unseren geistlichen Fortschritt und ist gleichsam ein Kanal des Gebetes und der Gnade, das Geheimnis süßester und fruchtreicher Tröstungen" (Holböck, Ferdinand, Wunder der Bekehrung, Meersburg 1984, S.13). Besonders wunderbar war die völlig unerwartete Bekehrung seines jüngeren Bruders Alphons, welche sich auf einer Reise während eines eher ungeplanten Zwischenaufenthalts in Rom ereignete.

Am 8. Januar 1842 redete ihn ganz unerwartet im römischen Corso ein einstiger Schulkamerad, der protestantische Baron Gustav de Bussierre an. Durch dieses zufällige Zusammentreffen kam es dann zur nicht geplant gewesenen Verlängerung des Romaufenthaltes. Der ehemalige Schulkamerad lud Alphons Ratisbonne in seine Wohnung ein. Dabei lernte er dann auch dessen Bruder Baron Theodor de Bussierre kennen, der aus dem Protestantismus zum Katholizismus konvertiert hatte. Es kam auch mit diesem zu einem Treffen in dessen Wohnung und dabei dann zu einem höchst eigenartigen Gespräch, das Alphons Ratisbonne selber so geschildert hat:

"Ich betrachtete Baron Theodor de Bussierre als einen heuchlerischen Frömmler im schlimmsten Sinn dieses Wortes und war froh, ihn im Gespräch wegen der Lage der römischen Juden verhöhnen zu können. Das war für mich förmlich eine Erleichterung. Aber meine Angriffe auf die katholische Kirche lenkten nun unser Gespräch auf das religiöse Gebiet. Der Baron sprach nun von der Erhabenheit der katholischen Kirche, während ich darauf nur mit ironischen Bemerkungen und Anschuldigungen gegen die Kirche reagierte, wie ich solche von den Gegnern des christlichen Glaubens gehört oder in ihren Schriften gelesen hatte. In der Hitze des Gefechtes suchte ich zuletzt meine gottlose Hetze aus Achtung vor der anwesenden Frau des Barons Bussierre und vor den beiden kleinen Kindern, die neben uns spielten, zu mäßigen. Da setzte nun der Baron ein und meinte: "Da Sie den angeblichen christlichen Aberglauben so sehr verabscheuen und sich zu ganz freisinnigen Ansichten bekennen mit ihrem aufgeklärten Geist, so erlaube ich mir die Frage: Würden Sie vielleicht den Mut aufbringen und sich einer recht harmlosen, unschuldigen Probe unterziehen?" "Welcher Probe?", so fragte ich. Und der Baron darauf: " Sie sollten nur einen Gegenstand bei sich tragen, den ich Ihnen geben möchte! Hier ist er: eine Medaille der seligsten Jungfrau Maria. Das erscheint Ihnen sicher lächerlich, nicht wahr? Aber ich lege großen Wert auf diese Medaille." Meine Antwort darauf lautete: "Der Vorschlag - ich gestehe es - befremdet mich sehr, weil er sonderbar und kindisch ist!"

Auf diesen Ausgang unseres Gesprächs war ich in keiner Weise vorbereitet, und meine erste Reaktion war dann noch Achselzucken und Lachen. Aber es überkam mich dabei der Gedanke, diese Angelegenheit könnte ein köstliches Kapitel für meine Reiseschilderung abgeben. So willigte ich spaßhalber ein, die Medaille als Beweisstück für den katholischen Aberglauben anzunehmen; ich würde sie meiner Braut überbringen. Gesagt, getan! Baron de Bussierre hängte mir die Medaille um den Hals, und zwar nicht ohne Mühe, denn der Knoten war zu kurz und das Band paßte nicht. Durch anhaltendes Ziehen bekam ich schließlich die Medaille auf meine Brust und rief dann lachend aus: 'So, nun bin ich also ein apostolischer und römischer Katholik!' Es war der böse Geist, der durch meinen Mund so prophezeite.

Baron de Bussierre triumphierte jetzt kindlich wegen des errungenen bescheidenen Sieges und wollte daraus weitere Vorteile ziehen. Er sagte: "Nun müssen wir die Probe aber noch vervollständigen! Es gilt nämlich noch, morgens und abends das sogenannte 'Memorare' ("Gedenke, o mildreichste Jungfrau ...) herzusagen, ein kurzes, aber sehr wirksames Gebet, das der hl. Bernhard von Clairvaux an die seligste Jungfrau Maria gerichtet hat." "Was wollen Sie denn mit Ihrem Memorare", rief ich aus, "lassen wir doch diese Dummheiten !" Im selben Augenblick fühlte ich nämlich, wie meine ganze Erbitterung gegen den katholischen Glauben in mir wieder hochkam, zumal mich der Name des hl. Bernhard wieder an meinen verhaßten Bruder Theodor erinnerte, der die Lebensgeschichte dieses Heiligen niedergeschrieben hatte... Ich bat den Baron, es bei dem Bisherigen bewenden zu lassen. Aber mein Gesprächspartner beharrte darauf und meinte, daß dann, wenn ich mich weigern würde, dieses kurze Gebet herzusagen, ich die Probe vereiteln und den Beweis für die freiwillige Verstocktheit liefern würde, die man den Juden vorwerfe. Ich wollte der Sache nicht zu viel Gewicht beimessen und sagte schließlich: "Nun gut, ich verspreche Ihnen auch noch, dieses Gebet herzusagen; wenn es nichts nützt, so wird es wenigstens nichts schaden." Baron de Bussierre holte nun den Gebetszettel und ersuchte mich, ihn daheim abzuschreiben. Ich sagte es zu. Wir trennten uns dann.

Den Abend dieses Tages verbrachte ich im römischen Theater. Dabei vergaß ich die Medaille und das Memorare. Dieses Gebet aber tauchte an den folgenden Tagen in meiner Erinnerung immer wieder auf; während des Gehens wiederholte ich ohne Aufhören die Worte des Memorare. Woher kam das nur, o Gott, daß jene Worte sich so lebendig und stark meinem Geist eingeprägt hatten? Ich konnte mich ihrer einfach nicht mehr erwehren. Immer wieder kamen sie mir in den Sinn, ständig wiederholte ich sie, so ähnlich wie es einem mit Arien ergeht, die einen verfolgen und quälen und die man gegen seinen Willen immer wieder vor sich hin summen muß."

Am letzten Tag seines verlängerten Romaufenthaltes vor der geplanten Rückfahrt nach Neapel - es war der unvergeßliche 20. Januar 1842 machte Alphons Ratisbonne nochmals bei Baron Theodor de Bussierre einen Besuch und mit ihm dann noch einen Gang durch die Straßen Roms. Der Baron wollte im Kloster des Minimitenordens des hl. Franz von Paula bei der Kirche Sant' Andrea delle Fratte wegen eines Todesfalls für die Familie La Ferronays reservierte Plätze bei dem in dieser Kirche stattfindenden Trauergottesdienst erbitten. Er bat Alphons Ratisbonne, inzwischen in der Kirche auf ihn zu warten. Da geschah nun an ihm das Wunderbare, das er selbst dann ausführlich bei einer "Enquette" auf dem römischen Vikariat geschildert und in mehreren Briefen beschrieben hat.

Hier aber sei festgehalten, was Baron Theodor de Bussierre erlebt hat: "Als ich in die Kirche zurückkam, sah ich einen Augenblick lang nichts von Ratisbonne, dann erblickte ich ihn, auf den Knien liegend in der den heiligen Schutzengeln geweihten Seitenkapelle. Ich trat zu ihm hin und stieß ihn drei oder viermal leise an, bevor er meine Gegenwart bemerkte... Ich richtete ihn in die Höhe - er war von Tränen überströmt - und zog ihn aus der Kirche hinaus. Dann fragte ich ihn, was denn geschehen sei und wohin er zu gehen wünsche. 'Fahren Sie mich hin, wohin Sie wollen' , rief er aus, 'nach dem, was ich geschaut habe, gehorche ich.' Ich drang in ihn, mir doch zu sagen, was er damit meine, aber er vermochte es nicht, denn seine Aufregung war noch zu stark und zu tief. Er zog die "Wundertätige Medaille" hervor, bedeckte sie mit Küssen und Tränen. Ich brachte ihn dann auf sein Zimmer. Trotz meiner wiederholten Fragen konnte ich auch dort nichts als ein paar Ausrufungen aus ihm herausbekommen, die von tiefen Seufzern unterbrochen waren. 'Wie groß ist mein Glück! Wie gut ist der Herr! Welch eine Fülle von Gnade und Seligkeit! Wie bedauernswert ist das Los derer, die Ihn nicht kennen!' Beim Gedanken an die Irrlehrer und Ungläubigen brach er dann wieder in Tränen aus. Zuletzt fragte er mich, ob ich ihn etwa für wahnsinnig halte. 'Doch nein', rief er aus, 'ich bin bei vollem Verstand, ich bin nicht von Sinnen!' Allmählich beruhigte er sich; dann legte Ratisbonne seine Arme um mich und umschlang mich.

Sein Gesicht war leuchtend, ich möchte fast sagen, verklärt; er bat mich dann, ihn zu einem Beichtvater zu führen; er verlangte zu wissen, wann er die heilige Taufe empfangen könne, denn nun halte er es nicht mehr aus, ohne sie zu leben. Er sagte noch, daß er mir keine weitere Erklärung geben könne, bis er die Erlaubnis dazu von einem Priester erhalten habe. 'Denn was ich zu sagen habe, ist von solcher Art, daß ich es nur, auf den Knien liegend, sagen kann.' Ich führte ihn sogleich in die Jesuitenresidenz bei der Kirche Il Gesu zu P. Philippe de Villefort SJ, der ihn ersuchte, sich auszusprechen.

Ratisbonne nahm seine Medaille hervor, zeigte sie uns und rief: 'Ich habe sie gesehen, ich habe sie gesehen!' Dabei war er von seinen Gefühlen wieder ganz hingerissen. Bald darauf aber ruhiger geworden, konnte er sich aussprechen: 'Ich war seit einem Augenblick in der Kirche (Sant' Andrea delle Fratte)', so sagte er, 'als ich mich auf einmal von einer unaussprechlichen Unruhe ergriffen fühlte. Ich erhob meine Augen. Da war plötzlich das ganze Kirchengebäude vor meinen Blicken verschwunden; eine einzige Kapelle vereinte gleichsam alles Licht in sich; und inmitten dieses Lichtglanzes erschien vor mir auf dem Altar groß und leuchtend, voll Majestät und Süßigkeit, die Jungfrau Maria, so wie sie auf der Medaille dargestellt ist; eine unwiderstehliche Gewalt trieb mich nun zu ihr hin. Die Jungfrau machte mir ein Zeichen mit der Hand, ich solle niederknien; sie schien mir dann zu sagen: So ist es gut. Sie hat weiter nichts mit mir gesprochen, aber ich habe von da an alles verstanden.' So kurz diese Mitteilung war, Ratisbonne konnte sie nicht zu Ende bringen, ohne häufig innezuhalten, um Atem zu schöpfen und die Rührung zu unterdrücken, die ihn durchdrang.

Wir blickten mit heiliger Scheu, die mit Freude und Dankbarkeit verbunden war, auf ihn und bewunderten zugleich die Tiefe der göttlichen Ratschlüsse und die unaussprechlichen Schätze der göttlichen Gnade. Besonders ein Wort ergriff mich und P. Villefort durch seine geheimnisvolle Tiefe: 'Sie hat nicht mit mir gesprochen, aber ich habe von da an alles verstanden!' Das war in Wahrheit an Ratisbonne klar genug: Der katholische Glaube war in jenem Augenblick in sein Herz eingeströmt und aus seinem Herzen herausgeströmt wie ein kostbarer Wohlgeruch aus dem Gefäß, das ihn enthält, aber nicht abschließen kann. Er sprach von der wirklichen Gegenwart wie ein Mann, der an sie mit der ganzen Energie seines Seins glaubt; doch ich drücke mich viel zu schwach aus, er sprach wie jemand, dem die volle Wahrheit des katholischen Glaubens ein Gegenstand direkter Wahrnehmung geworden war.

Nachdem wir P. Villefort wieder verlassen hatten, begaben wir uns, um Gott unseren Dank darzubringen, zuerst nach S. Maria Maggiore, der Hauptkirche der seligsten Jungfrau Maria, und dann nach St. Peter. Es wäre unmöglich, die Gemütsbewegungen zu beschreiben, die er in diesen Kirchen empfunden hat. Er drückte mir warm die Hand und sagte: 'Jetzt begreife ich die Liebe, mit der die Katholiken ihre Kirchen betrachten, und die Andacht, mit der sie dieselben schmücken... Wie gut ist hier doch zu sein, man möchte niemals mehr fortgehen.... Es ist nicht die Erde, es ist der Vorhof des Himmels!'

Beim Sakramentsaltar in St. Peter überwältigte ihn dann der Gedanke an die wahre, reale Gegenwart Jesu Christi im heiligsten Sakrament in solchem Maß, daß er knapp daran war ohnmächtig zu werden. Ich mußte ihn wegführen, so schrecklich erschien es ihm, noch im Zustand der Erbsünde in der Gegenwart des lebendigen Gottmenschen zu weilen. Er beeilte sich, in die Kapelle der seligsten Jungfrau zu kommen und sagte dann zu mir... 'Hier habe ich keine Furcht, ich fühle mich hier unter dem Schutz einer unbegrenzten Güte und Liebe der seligsten Jungfrau.' Ich fragte ihn wieder und wieder über die näheren Umstände seiner ihm zuteil gewordenen wunderbaren Erscheinung... Alles, was er wußte, bestand darin, daß er sich in der Kirche Sant' Andrea delle Fratte vor der Schutzengelkapelle plötzlich auf den Knien liegend befunden habe. Im ersten Augenblick habe er dann die Himmelskönigin in allem Glanz ihrer unbefleckten Schönheit gewahren können; doch er habe den Glanz dieses himmlischen Lichtes nicht ertragen können. Noch dreimal habe er versucht, die Mutter der Barmherzigkeit anzublicken, dreimal habe er es vergebens versucht, seine Augen höher zu erheben als bis zu ihren heiligen Händen, von denen in leuchtenden Strahlen ein Strom von Gnaden floß. '0 mein Gott' - so rief er aus - 'ich, der ich noch vor einer halben Stunde gelästert hatte, ich, der ich einen so tödlichen Haß gegen die katholische Kirche gehegt hatte! Alle, die mich kennen, wissen, daß ich - menschlich gesprochen - die zwingendsten Gründe hätte, Jude zu bleiben, denn meine Familie ist jüdisch, meine Braut ist Jüdin, mein Onkel (dessen Bank ich erben sollte) ist Jude... Wenn ich nun Katholik werde, opfere ich alle meine bisherigen Interessen und Zukunftshoffnungen, die ich auf Erden habe, und dennoch muß ich den großen Schritt tun... "

Die Kunde von dem wunderbaren Ereignis verbreitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit in allen Kreisen Roms und wurde überall mit größter Anteilnahme, ja mit Begeisterung aufgenommen. Diese Kunde gelangte aber auch sehr bald nach Paris zu P. Theodor Ratisbonne und nach Straßburg, wo sie gleichfalls tiefen Eindruck machte, in Paris im positiven, in Straßburg (bei seinen Angehörigen, Anm.) begreiflicherweise im negativen Sinn.

In Anbetracht der wunderbaren Umwandlung, die mit Alphons Ratisbonne vor sich gegangen war, hielt sich der Jesuit P. Villefort für berechtigt, von der Regel, die sonst einen längeren Katechumenen-Unterricht bei einem Erwachsenen erfordert, abzusehen und dem heißen Wunsch des Taufbewerbers nach der heiligen Taufe schon nach Verlauf von nur zehn Tagen zu entsprechen, was auch vom römischen Vikariat, dem Ordinariat des Bischofs von Rom, des Papstes, genehmigt wurde. Der berühmte Kardinal Giuseppe Mezzofanti, das staunenswerteste Sprachengenie, das im vorigen Jahrhundert gelebt hat - er war im römischen Vikariat mit der Prüfung der erwachsenen Taufbewerber beauftragt - war erstaunt über die Fülle des Lichtes, das in die Seele des gläubig gewordenen Juden eingegossen worden war.

Die Taufe mit der anschließenden Firmung und Erstkommunion fand in der Kirche Il Gesu am 31. Januar 1842 statt unter Anteilnahme von überaus vielen andächtigen, aber auch neugierigen Menschen. Abbé Felix Dupanloup, damals berühmter geistlicher Rhetorikprofessor an der Sorbonne in Paris, später Bischof von Orleans, hielt bei dieser Tauffeier die Ansprache; sie war, wie man ihrem festgehaltenen Wortlaut entnehmen kann, begreiflicherweise ein "Lobgesang zum Preise der Barmherzigkeit Gottes und auf die mütterliche Liebe der seligsten, unbefleckt empfangenen Gottesmutter, der großen Fürsprecherin und Vermittlerin aller Gnaden". Alphons Ratisbonne bat, auf den Namen Maria getauft zu werden und nannte sich fortan fast immer nur mit diesem Namen, während er in die Geschichte als Alphons Maria oder französisch: als Marie-Alphonse eingegangen ist.

Der gegen die katholische Kirche einst haßerfüllte Jude war nun wie sein Bruder Theodor ein bis zu seinem Lebensende unerschütterlich treuer Sohn der katholischen Kirche. Er brach mit seinen früheren Plänen, auch mit der geplanten Vermählung mit seiner Nichte Flora Ratisbonne. Er teilte ihr mit, daß er wegen seiner Bekehrung zum katholischen Glauben nicht mehr zu seinem gegebenen Versprechen stehen könne. In einem Antwortbrief vom 14. Februar 1842 schrieb ihm Flora Ratisbonne zurück, sie sei bitter enttäuscht und sehr schmerzlich berührt, hoffe aber, daß er, Onkel Alphons, seinen törichten Schritt bald bereuen und rückgängig machen werde. Er aber schrieb ihr am 6. März 1842, sein Schritt sei endgültig, zumal er auch noch katholischer Priester werden wolle wie sein Bruder Theodor, aber er werde sie wie ein Bruder weiter lieben und viel für sie beten. Erwähnt sei hier, daß sich Flora Ratisbonne vier Jahre später am 27. August 1846 mit einem gewissen Alexander Singer vermählt hat und erst 1915 gestorben ist; sie blieb zeitlebens mit ihrem ehemaligen Bräutigam und Onkel Alphons in guter, regelmäßiger brieflicher Verbindung und half ihm auch mit gelegentlichen Geldspenden bei seinen Werken, die er in Jerusalem aufbaute. (aus: Holböck, Ferdinand, Wunder der Bekehrung, Meersburg 1984, S.20ff.)

Seine Bekehrung drängte Alphons Ratisbonne, zusammen mit seinem Bruder Theodor, der ebenfalls Konvertit und Priester war, die frohe Botschaft auch unter seinen jüdischen Volksgenossen zu predigen. In diesem Sinn entstand eine neue Ordensfamilie, die sich der Mission unter den Juden widmen wollte.

 

"Notre Dame de Sion"

Der bekehrte Alphons-Marie Ratisbonne hatte bald nach seiner Taufe an seinen Bruder Theodor geschrieben, die seligste Jungfrau, die ihn so wunderbar zur Bekehrung geführt habe, habe ihm gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß diese Gnade in einem gewissen Sinn auch für das jüdische Volk bestimmt sei. Darum drängte er seinen Bruder Theodor, ein Katechumenat für jüdische Kinder zu errichten, weil er wußte, daß unter den armen Juden, die vor kurzem aus Nordafrika und Osteuropa nach Frankreich gekommen waren, so manche für ihre Kinder eine christliche Erziehung wünschten.

Theodor Ratisbonne, von seinem Bruder beeinflußt, überlegte; er selbst war seit seiner Bekehrung im Jahre 1827 von den Verheißungen tief betroffen, die sich in der Hl. Schrift auf die Zukunft des jüdischen Volkes beziehen und die sich vor allem im Römerbrief des hl. Paulus (Röm 11,1.15.16) finden: "Hat etwa Gott sein Volk verworfen? Keineswegs! ... Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden ... "

Darum wollte Theodor Ratisbonne für die Rettung der Juden etwas unternehmen. Auch durch die Gottesmutter, die Gnadenmutter vom Sieg, wurde er, der ja damals 1842 schon Direktor der Erzbruderschaft "Unserer Lieben Frau vom Sieg für die Bekehrung der Sünder" war, immer wieder zu einem geistlichen Hilfswerk für die Juden angeregt. Eines Tages betete Theodor Ratisbonne, wie er selbst in seinen "Erinnerungen" festgehalten hat, so zu Maria: "Vielgeliebte Mutter, ich will alles tun, was du mir sagst. Wenn dies nun das delikate Werk sein sollte, das du meinem Bruder Alphons inspiriert hast und zu dem er mich bewegen will, so laß mich das bitte durch ein Zeichen wissen. Schick mir nur ein einziges jüdisches Kind, und ich weiß dann: Das ist das Zeichen, daß es so der Wille Gottes ist!"

So hatte er am Morgen gebetet. Und am Abend des gleichen Tages noch teilte ihm der Direktor der Lazaristen, der schon genannte P. Aladel, in einem Brief mit, eine sterbenskranke jüdische Frau habe ihm anvertraut, sie möchte ihre Kinder christlich erziehen lassen; er frage an, ob er, Theodor Ratisbonne, sich nicht für dieses gute Werk interessieren würde. Beim Lesen dieses Briefes kam Theodor Ratisbonne sofort der Gedanke, das sei das Zeichen, das ihm die Gottesmutter auf sein Gebet am Morgen nun gegeben habe.

Theodor Ratisbonne ließ nun zwei Elsäßerinnen, Sophie Stouhlen und Louise Weywada, deren Seelenführer er schon in Straßburg gewesen war, nach Paris kommen. Diese begannen unter seiner Leitung, sich um die christliche Erziehung jüdischer Kinder zu sorgen. So entstand im September 1843 das Katechumenat für jüdische Mädchen, das am Anfang der "Kongregation der Schwestern Unserer Lieben Frau von Sion" steht. Theodor Ratisbonne hatte dabei anfangs gar nicht an die Gründung einer Schwesternkongregation gedacht, er wollte nur eine kleine Gemeinschaft von Frauen schaffen, die nach dem Beispiel der Urgemeinde von Jerusalem ein Herz und eine Seele wären und sich diesem Erziehungswerk an jüdischen Kindern widmen würden, das Gott ihnen anvertraute. Doch diese Frauen baten, als ihre Zahl größer geworden war, darum, die Weihe und äußeren Zeichen von Ordensschwestern zu bekommen. Schon 1846 gewährte ihnen der Gründer ihren Wunsch, weil er in ihm eine Eingebung des Hl. Geistes erkannte. Bereits 1847 erließ Papst Pius IX. das "Decretum laudis", das Dekret der lobenden Anerkennung für diese neu entstandene Schwesternkongregation, die im Lauf der folgenden Jahre ungemein viel leistete für die geistig-geistliche Wiedergeburt der Juden und am 8. September 1863 bereits die definitive Approbation durch den Heiligen Stuhl erhielt.

Durch das schöne Aufblühen dieser Schwesternkongregation ermutigt, beschloß Theodor Ratisbonne, für denselben Zweck auch einen männlichen Zweig dieser Kongregation zu gründen. Sein Bruder Alphons sollte ihm dabei helfen. Papst Pius IX. hieß das gut. So schied Alphons-Maria Ratisbonne, der bisher segensreich im Jesuitenorden gewirkt hatte, mit Erlaubnis des Papstes und im Einverständnis mit seinen bisherigen Ordensoberen - er hatte noch nicht die ewigen Gelübde abgelegt - am 18. Dezember 1852 aus dem Jesuitenorden aus, fühlte sich aber sein weiteres Leben lang immer dankbar mit der Gesellschaft Jesu verbunden. Er arbeitete fortan an der Seite seines Bruders Theodor in Paris, drängte aber immer mehr, daß das große Werk für die Rettung der Juden von Paris aus auch in das Stammland des Judentums nach Jerusalem verpflanzt werde.

Am 12. September 1855 kam Alphons-Maria Ratisbonne erstmalig ins Heilige Land. Er gründete dann unter allergrößten Schwierigkeiten drei Häuser für die Schwestern Unserer Lieben Frau von Sion und für ihre Waisenkinder. Die drei Häuser existieren auch heute noch im Staat Israel. Man muß sich diese Schwierigkeiten ein klein wenig ausmalen: Der größte Teil der ehrwürdigen Denkmäler der Heilsgeschichte damals in Palästina lag in Trümmern, die Straßen Jerusalems waren weithin verödet und verlassen, das Land war unter türkischer Herrschaft total verarmt, die Bevölkerung, sowohl die jüdische als auch die arabische, war meist bettelarm und ungebildet; die Beziehungen zu den zivilen Autoritäten waren für einen Christen äußerst schwierig und kompliziert; denn alle Erlaubnisse mußten in Konstantinopel eingeholt werden. An kirchlichen Einrichtungen gab es damals in Jerusalem nur die paar Häuser der Franziskaner an bestimmten heiligen Stätten des Lebens Jesu; die einzige Schwesternkongregation, die in Jerusalem anwesend war und dort wirkte, war erst 1848 dorthin gekommen; es waren die St. Josephs-Schwestern. Mit Hilfe des Lateinischen Patriarchen Giuseppe Valerga (+1872) gelang es nun Alphons-Maria Ratisbonne, in einem gemieteten kleinen Haus eine erste Niederlassung der Sions-Schwestem zu errichten.

Bald machte er sich auf die Suche nach einem passenden Grundstück für den Bau eines Klosters und eines Waisenhauses. Geheimnisvoll waren dabei die Wege der göttlichen Vorsehung, denn sie führten nach langem vergeblichem Suchen dazu, gerade die Ruinen bei der einstigen Burg Antonia beim sogenannten Ecce-Homo-Bogen am Anfang des Kreuzwegs Jesu zu erwerben, also genau dort, wo einst die verhetzten Juden geschrieen hatten: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Ratisbonne selbst bekannte: "Ja, das war der Ort, der für das Werk bestimmt war, das in Jerusalem zu gründen ich mich berufen gefühlt hatte. Ich kniete an dieser heiligen Stätte nieder und gelobte dem mit Dornen gekrönte Heiland, keine Ruhe mehr kennen zu wollen, bis das Werk vollendet sei."

Er kehrte nach Europa zurück, um die große Kaufsumme, die immer wieder hinaufgesteigert worden war von drei arabischen Brüdern, denen dieser Grund gehörte, - 70 000 Fr. zu sammeln. 17 Monate lang bettelte er in Frankreich und Belgien von Tür zu Tür, um die Summe zusammenzubringen, da er selbst bettelarm geworden war und er nicht von seinem Onkel Louis Ratisbonne (+ 1855) - wie dies ursprünglich geplant gewesen war - als Erbe des großen Vermögens eingesetzt wurde.

Am 20. Januar 1862, genau 20 Jahre nach seiner wunderbaren Bekehrung in Sant' Andrea delle Fratte in Rom, konnte Alphons-Maria Ratisbonne den Schwestern und ihren Waisenkindern Kloster und Waisenhaus beim Ecce-Homo-Bogen schlüsselfertig übergeben. In den Jahren 1866 - 1867 machte sich der seeleneifrige Priester nochmals auf eine Bettelreise, diesmal vor allem nach Deutschland, um die Gelder zu sammeln für eine Ecce-Homo-Kirche neben dem Kloster der Sions-Schwestern; am 3. April 1868 wurde diese Kirche eingeweiht. Schließlich wurde 1873 noch das Haus St. Peter von Ratisbonne erbaut als Ausbildungs- und Lehrwerkstätte für Buben. Auch ein Haus am Ort der Begegnung zwischen Maria und ihrer greisen Verwandten Elisabeth in Ain Karim oder St Johann im Gebirge hatte Ratisbonne 1860 erworben und ausgebaut als Erholungsstätte für erkrankte Schwestern.

Während Theodor Ratisbonne von Paris aus für die weitere Ausbreitung der Kongregation der Schwestern "Unserer Lieben Frau von Sion" wirkte, durch seine Tätigkeit als Generaldirektor der "Erzbruderschaft" und durch seinen selbstlosen, seeleneifrigen Einsatz für die Bekehrung der Sünder auch unter den Juden betete und arbeitete und ein wahrhaft heiligmäßiges Leben führte bis zu seinem Tod am 10. Januar 1884, blieb Alphons-Maria Ratisbonne die ganze Zeit in Jerusalem, dort ganz seiner Aufgabe und Sendung für die Bekehrung der Juden hingegeben. Dabei lebte er immer aus jenem Gnadenwunder, das ihm am 20. Januar 1842 in "Sant' Andrea delle Fratte" in Rom zuteil geworden war. Ergreifend ist, wie er einmal in einem Brief vom 20. Januar 1869 als Ziel seines ganzen geistlichen Lebens und Strebens dies angibt: "Toute ma vie doit reproduire les phénomènes de l'ordre surnaturel: la Croix et Marie" (Übers.: "Mein ganzes Leben muß die wunderbaren Tatsachen der übernatürlichen Ordnung fruchtbar werden lassen: Das Kreuz und Maria."), und wie er einmal in einem Brief vom 12. Dezember 1871 sein Glaubensbekenntnis in prägnanter Kürze zusammenfaßt in die Worte: "Je crois à la Résurrection, à la divine misericorde, à l'amour de Marie et à la vie éternelle" ("Ich glaube an die Auferstehung, an die göttliche Barmherzigkeit, an die Liebe Mariens und das ewige Leben."). Seiner Dankbarkeit gegenüber der unbefleckt empfangenen Gottesmutter Maria gab er in seiner testamentarischen Verfügung in ergreifender Weise so Ausdruck: "Maria ist das Wort, das fortan meine ganze innere Gesinnung zum Ausdruck bringt. Maria ist der einzige Name, den ich in der Taufe empfangen habe, Maria ist darum auch der einzige Name, der auf meinem Grabstein eingraviert sein soll, Maria ist der Name für meine Danksagung die ganze Ewigkeit hindurch."

Alles in seinem Leben als Katholik und katholischer Priester stand immer in Bezug zum gnadenhaften Ereignis des 20. Januar 1842 in Rom: seine Sendung, für das Heil Israels zu arbeiten, sein Eintritt in die Gesellschaft Jesu und sein Austritt aus dem Jesuitenorden, sein Arbeiten für "Notre Dame de Sion" zusammen mit seinem Bruder, sein Leben und schließlich sein Sterben in Jerusalem vor hundert Jahren.

Seiner Danksagung für das Ereignis vom 20. Januar 1842 galt sechs Jahre vor seinem seligen Heimgang auch seine Rompilgerfahrt. Jahr für Jahr hatte er am 20. Januar stille Einkehr gehalten und für die große Gnade, die ihm Maria vermittelt hatte, gedankt. Immer erwachte dabei seine Sehnsucht, doch noch einmal am Ort der Erscheinung Mariens in Rom beten und dort das eucharistische Dankopfer feiern zu können, zum Dank für diese Gnade. Im Jahre 1878 gelang ihm das. Am 26. Januar kam er in Rom an. Er beeilte sich, nach "Sant' Andrea delle Fratte" zu kommen. Er fragte in der Sakristei, ob er zelebrieren könne. Was sich da nun abspielte, schildert Alphons-Maria Ratisbonne in einem Brief vom gleichen Tag an eine Schwester so: "Ich wurde in der Sakristei gefragt: 'Wollen Sie die Messe am Altar der Madonna del Ratisbonne feiern? Woher kommen Sie denn überhaupt? Zu welcher Missionsgesellschaft gehören Sie?' - Ich antwortete: 'Zur Mission von Jerusalem.' - Da kam die Gegenfrage: 'Kennen Sie dann Ratisbonne?' - Und meine Antwort: 'Ja, gewiß kenne ich ihn, sogar sehr gut. Ich will sogar in seiner Intention die hl. Messe feiern.' - 'Va bene!' So lautete dann die Antwort des Sakristans." Eine ganz ähnliche Szene spielte sich am nächsten Tag auch in der Jesuitenkirche Il Gesu ab. An den weiteren Tagen seines Romaufenthaltes feierte er immer um 7:30 die hl. Messe am Altar der Erscheinung. Seinem Bruder Theodor schrieb er nach Paris, daß er bei diesen heiligen Messen immer wieder zutiefst ergriffen gewesen sei: "Mir scheint, als ob ein Gutteil meines Herzens, meiner Seele, meines Lebens hier bleibe, um immerfort zu danken!"

Der damals dem Tod nahe Papst Pius IX. - er starb am 7. Februar 1878 - ließ es sich nicht nehmen, Alphons-Maria Ratisbonne am 1. Februar noch in Audienz zu empfangen und sich eine Stunde lang von ihm über die segensreiche Tätigkeit in Jerusalem und über die einsetzende Verbreitung der Sions-Schwestern berichten zu lassen. Die Schwestern "Unserer Lieben Frau von Sion" hatten damals bereits über Paris und Jerusalem hinaus in England (1861) und in Rumänien (1866) Niederlassungen gegründet. Heute wirken sie in Rom, Paris, London, Lille, Marseille, Frankfurt, Wien, Madrid, Montreal, San Jose, Sao Paolo, Buenos Aires und Melbourne...

Am 6. Mai 1884 ... wurde P. Alphons-Maria Ratisbonne aus dem irdischen Jerusalem von seiner vielgeliebten Schutzpatronin zum ewigen Lohn in das himmlische Jerusalem heimgeholt, nachdem er wenige Stunden vor seinem Tod zu den ihn umgebenden Sions-Schwestern gesagt hatte: "La Très Sainte Vierge m'appelle et j'ai besoin d'elle. Rien que Marie! Pour moi, c' est tout. Marie! Tout est là." ("Die allerseligste Jungfrau ruft mich, und ich bedarf ihrer notwendig. Nichts als Maria! Für mich bedeutet sie alles. Maria! Bei ihr ist alles.")

Begraben wurde er am 8. Mai in Ain Karim. Auf seinem Grabstein steht dort tatsächlich nichts anderes, als was er testamentarisch gewünscht hatte: "Père Marie."
Gedeutet aber hat er diese zwei Worte so: "Das erste sagt, daß ich ein Sünder war, das zweite aber spricht von der Barmherzigkeit Marias gegen mich."
(Holböck, Ferdinand, Wunder der Bekehrung, Meersburg 1984, S.35ff.)


Weitere Literatur:
Zwei Bände "Sources de Sion", herausgegeben vom Mutterhaus der Kongregation Notre Dame de Sion, in Rom, via Garibaldi:
1- Theodore Ratisbonne, Mes Souvenirs, 223 Seiten, o.J.
2- Soeur M. Carmelle, N.D. de Sion: L'evenement du 20 Janvier 1842 et Marie-Alphonse Ratisbonne, 182 Seiten, Rom 1977
Soeur M. Carmelle, N.D. de Sion: Alphonse Ratisbonne de Rome a Jerusalem, 42 Seiten, Rom 1981
Ein Sonderdruck aus der "Revue du Rosaire, April 1954: "Le Converti de la Medaille Miraculeuse, Marie-Alphonse Ratisbonne"
David August Rosenthal, Convertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert, III. Bd., 1. Abteilung: Frankreich und Amerika, Schaffhausen 1869, darin über Theodor Ratisbonne: S. 141 - 162; Alphons Ratisbonne: S. 194 - 236


Abschließende Bemerkung:
Schwester Hedwig Wahle, Mitglied der Kongregation "Unsere Liebe Frau von Sion" schreibt 1980: 
"Auch in der Theologie hat sich seit 1945 das Verhältnis der Kirche zum Judentum gewandelt. Man glaubt nicht mehr, das Judentum 'missionieren' zu müssen. Man ist sich vielmehr bewußt, daß das Judentum neben dem Christentum eine Aufgabe im Heilsplan Gottes hat" (Wahle, H., Das gemeinsame Erbe, Innsbruck 1980, S. 206).

Somit scheint selbst im Orden "Unserer Liebe Frau von Sion", der für die Mission unter den Angehörigen des jüdischen Volkes gegründet worden ist, der Missionsgedanke verloren zu sein. Aus anderen Orden und auch von "kirchlichen" Autoritäten hört man heute oft ähnliche Meinungen. Bis zum Tod von Papst Pius XII. (1958) gab es in der Kirche keine Ablehnung des Missionsgedankens, wie sie uns heute leider auch in zahlreichen Äußerungen kirchlich leitender Persönlichkeiten entgegentritt. 1945 war keine Wende im Missionsgedanken gegenüber dem jüdischen Volk, sondern höchstens eine Wende im Bewußtwerden des Schicksals dieses Volkes. Erst nach 1958 glaubte man vielfach "nicht mehr, das jüdische Volk missionieren zu müssen" (a.a.O.).

Im Heilsplan Gottes hat alles eine bestimmte Aufgabe, natürlich auch das jüdische Volk. Jedoch dürfen wir dem einzelnen Menschen nicht die wahre Bekehrung zu Gott vorenthalten, indem wir darauf verzichten, sie zu Jesus zu führen. Ein Jünger Christi weiß, daß Jesus seine Jünger ausgesandt hat, "alle Völker" durch die Taufe "zu Jüngern" zu machen (vgl. Mt. 28,19). Der Verzicht auf die Mission bedeutet auch einen Verzicht auf wahres Jüngertum, welches nie den wahren Reichtum der menschgewordenen Liebe Gottes zugunsten einer übereifrig betriebenen "Verständigung" unterschlagen kann.

Vielleicht hängt dieser Verzicht auf die Mission mit der - auch eifrig kundgetanen - Auffassung zusammen, daß Jesus die Zerstörung des Tempels gar nicht voraus gewußt haben könne, wodurch man Ihn - gegen das eindeutige Zeugnis der Apostel und des Evangeliums - zum bloßen Menschen stempelt. (So schreibt z.B. Schwester Hedwig Wahle, vgl. a.a.O., S. 64: "Der Text im Mattäusevangelium stammt aber eigentlich erst aus der Zeit nach der Tempelzerstörung und nach der Trennung der Christen von den Juden. Denn Mt. 23,38: 'Siehe, euer Haus wird für euch verlassen sein', ist eine unmißverständliche Anspielung auf die Zerstörung des Tempels").

Heiliger Geist, hilf uns allen, die Botschaft Jesu in rechter Weise zu verkündigen!


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