Kirchliche Tradition und die heilige Schrift 


Teil 2

Kirchliche Urheberschaft der Heiligen Schrift 

Behandelt man das Thema nach dem Stellenwert der Heiligen Schrift in der katholischen Kirche, muss ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass z.B. außer den allgemein bekannten Schriften des Neuen Testamentes noch eine ganze Reihe weiterer Schriften religiösen Inhalts überliefert worden ist, die alle von sich aus zwar den Anspruch erheben, einen der Apostel oder Jünger zum Autor zu haben (und somit auf göttliche Inspiration pochen), die aber dann doch nicht zum Kanon der Heiligen Schrift beigezählt wurden. Diese Schriften werden „Apokryphen“ genannt („verborgen“, „geheim“), teilweise sind davon lediglich kurze Fragmente erhalten geblieben. Dazu gehört - um beim Neuen Testament zu bleiben - eine stattliche Anzahl von 46 (apokryphen) Evangelien, 25 Apostelgeschichten, über 10 Briefen und 11 Apokalypsen! „Sie galten als verdächtig, weil man ihre Herkunft nicht kannte, weil sie viele Fabeleien enthielten und nicht wenige Apokryphen von Häretikern geschrieben waren“ (LthK, Band I, Herder, Sonderausgabe 1986, Sp. 712). 

Was aber uns in diesem Zusammenhang interessiert, ist die Tatsache, dass niemand anders als die katholische Kirche (!) die Entscheidung darüber getroffen hat, welche der vorliegenden Schriften nun göttlich inspiriert sind und zum Kanon des Neuen (oder des Alten) Testaments gehören, d.h. welche der Schriften tatsächlich historische Ereignisse wiedergeben und von einem Apostel oder Jünger des Herrn geschrieben wurden. So haben sich schon früher Kirchenväter mit ihrer Meinung zu dieser oder jener (umstrittenen) Schrift zu Wort gemeldet. Und im Jahre 382 wurde der neutestamentliche Kanon auf einer Römischen Synode endgültig in der seitdem gültigen Form festgelegt. Diese Tatsache unterstreicht ebenfalls das Abhängigkeitsverhältnis der Heiligen Schrift von der katholischen Kirche. Also ist innerhalb der Heilsordnung nicht die Bibel gewissermaßen höher als die Kirche einzustufen, wie es der Protestantismus wissen will. Im Gegenteil, ohne die Kirche gäbe es die Bibel nicht! 

Auch gibt es nicht die so genannte „Bibel“ schlechthin! Es sind nämlich oft mehrere Versionen der jeweiligen einzelnen Schriften überliefert worden, die nicht in allem völlig übereinstimmend lauteten. Entweder kam es daher, dass bereits in frühesten Zeiten mancherorts Bibeltexte, so genannte Codices, im Umlauf waren, die an bestimmten Stellen zwar keine gravierenden, aber dennoch sprachliche Abweichungen voneinander aufwiesen. Oder die gelegentliche unmaßgebende Verschiedenheit der Schriftversionen war auf die Tatsache zurückzuführen, dass die neutestamentlichen Texte an verschiedenen Orten halt von jeweils verschiedenen Personen vom griechischen Originaltext ins Lateinische übersetzt wurden. Erneut war es niemand anders als die katholische Kirche, die unter dem Beistand des ihr verheißenen und auch tatsächlich verliehenen Heiligen Geistes eine Entscheidung darüber getroffen hat, welche Version nun in textkritischer Hinsicht besser sei und daher den Vorzug erhalte, als inspiriert, d.h. als Norm der christlichen Lehre, zu gelten, bzw. welche Übersetzung nun dogmatisch einwandfrei sei, der Lehre der Kirche am meisten entspräche und daher verdiene, anderen lateinischen Übersetzungen des Originaltextes vorgezogen zu werden. So hat sich unter den Schriften des Neuen Testamentes in der Römischen Kirche die unter maßgebender Beteiligung des hl. Hieronymus entstandene lateinische Vulgata-Übersetzung im Laufe der Zeit als die amtliche Version der Bibel durchgesetzt. 

 

Zur Frage der Auslegung der Heiligen Schrift 

Aber es ist noch nicht damit getan, einen authentischen Text des Neuen Testamentes in der Hand zu haben und zu lesen. Denn wir begegnen an dieser Stelle unserer Untersuchung dem historischen Phänomen, dass dieselbe Heilige Schrift von verschiedenen Menschen und Gruppen auch jeweils verschieden ausgelegt, dass aus ihr nicht selten auch ein jeweils verschiedener Inhalt herausgelesen wird. Die katholische Kirche findet in der Heiligen Schrift ihr Glaubenszeugnis wiedergegeben. Doch auch die verschiedensten nichtkatholischen christlichen Gemeinschaften berufen sich auf diese und meinen, in ihr die Bestätigung für ihre eigenen, von der katholischen Glaubenswahrheit abweichenden Lehren zu finden. 

Einige Stellen der Bibel sind aber auch wirklich schwer zu verstehen, entweder weil dem heutigen Zeitalter die damaligen kulturellen und zeitgeschichtlichen Hintergründe nicht mehr bekannt sind oder weil einiges tatsächlich nicht klar genug geschrieben worden ist. So beklagt auch der hl. Petrus, dass in den Briefen des hl. Paulus “manches schwer verständlich” ist, was dann auch von einigen Menschen in seinem eigentlichen Sinn “zu ihrem Verderben verdreht” wird (2 Petr 3,16).  Wie löst man nun dieses Problem der richtigen Schriftauslegung? Wie bei jeder anderen Schrift kommt man auch beim Neuen Testament hierbei nur weiter, wenn man sich darauf besinnt, wie die betreffenden Autoren selbst ihre Worte verstanden wissen wollten. Mit anderen Worten: es ist nur jene Auslegung zulässig, die im Sinne und nach dem Willen des Autors erfolgt! 

Und wie kann man heute nach beinahe 2000 Jahren noch wissen, wie die Apostel und Evangelisten ihre eigenen schwierigen Textstellen ausgelegt haben? Die Antwort darauf kann wiederum nur die kirchliche Tradition geben. Denn diese Jünger Christi haben ja, wie wir bereits in „Beiträge“/30 (S. 9f.) darauf hingewiesen haben, allem voran gepredigt! Dieses gesprochene Wort der Apostel gibt Aufschluss darauf, wie sie ihre niedergeschriebenen Worte verstanden wissen wollten. Ihre Predigt vor den Massen des gläubigen Volkes liefert uns den Schlüssel zum richtigen Verständnis der Heiligen Schriften, welches dann in der mündlichen Überlieferung auch von Generation zu Generation weitergegeben wurde. So wurde in der Kirche dank ihres Traditionsverständnisses u. a. auch die richtige Auslegung der Briefe des hl. Paulus lebendig erhalten. 
 

Die Quelle der Glaubensverkündigung, die durch die Apostel erging, sind doch zweifelsohne die Belehrungen, die ihnen von ihrem göttlichen Meister selbst zuteil wurden. Das Lukasevangelium berichtet uns, wie der auferstandene Jesus Seine Apostel darauf aufmerksam gemacht hat, dass “alles sich erfüllen muss, was im Gesetz des Moses, bei den Propheten und in den Psalmen von Mir geschrieben steht”. Unmittelbar darauf heißt es im Evangelium: “Hierauf erschloss Er ihnen den Sinn für das Verständnis der Schriften” (Lk 24, 44f.). Auch zu Beginn der Apostelgeschichte heißt es, dass Jesus (nach der Auferstehung) “Seinen auserwählten Aposteln durch den Heiligen Geist Seine Aufträge erteilt hatte” (Apg 1,2). 

Um welche “Aufträge” handelt es sich hierbei konkret? Wie sind die Heiligen Schriften zu verstehen? Die Bibel, speziell das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte, die davon sprechen, geben uns kaum bzw. keine Aufklärung darüber! Aber die Apostel selbst müssen ja diese Erläuterungen Jesu gehört haben. Auch wenn sie keinen ausdrücklichen schriftlichen Niederschlag fanden, nahmen diese anscheinend ausschließlich an die Apostel gerichteten Worte Christi dennoch Einfluss auf deren mündliche Verkündigungstätigkeit. Denn es darf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jene, die der Predigt der Apostel lauschten, auch (wenigstens indirekt) vernahmen, um welche „Aufträge“ es sich nun konkret handelte, wie nun die Heiligen Schriften genau auszulegen sind. Und wiederum spielt die kirchliche Tradition als lebendige Heilvermittlung eine entscheidende Rolle bei der Wiedergabe und Weitergabe des Glaubens, weil sie diesmal wertvolle Hinweise für die richtige Interpretation der Bibel liefert. Offensichtlich führt der Heilige Geist, der “Geist der Wahrheit” (Joh 14,16), nicht nur die Apostel, die Er “alles andere“ gelehrt und sie “an alles“ erinnert hat, was Jesus ihnen gesagt hat (vgl. Joh 14,26), sondern durch sie auch die ganze Kirche “in alle Wahrheit“ ein (vgl. Joh 16,13). Und in diesem Heiligen Geist besitzt diese katholische und apostolische Kirche das richtige Verständnis der Heiligen Schriften. 

Wenn wir also zusammenfassend berücksichtigen, dass es keine andere Instanz war als die Kirche, die die Entscheidung über die Zugehörigkeit der einzelnen Schriften zum Kanon der Heiligen Schrift getroffen hat, wenn wir ferner beachten, dass die Apostel und Evangelisten, die diese hl. Bücher verfasst haben, kirchliche Amtsträger waren - d.h. diese Schriften sind innerhalb der Kirche entstanden (!) -, dann erkennen wir, dass die Bibel letztendlich auch nur im Sinne derselben Kirche, der katholischen Kirche, ausgelegt werden kann! Daher darf sie auch nicht gegen diese Kirche ausgespielt werden. Auf diesem Hintergrund erscheint das Verhalten nichtkatholischer christlicher Konfessionen widersprüchlich, die zwar die hl. Bücher der Kirche annehmen, sie aber dennoch nicht im Sinne derselben Kirche auslegen. 
 

Wie allgemein in Glaubensfragen hat man sie seit jeher ebenfalls in Fragen der Auslegung der Heiligen Schrift befragt. “(Bei der Entscheidung darüber, ob etwas wahre Lehre oder Irrlehre ist,) hat man sich nicht auf die Schrift zu berufen; dadurch würde der Streit auf ein Gebiet verlegt, wo entweder gar kein Sieg zu erhoffen ist oder ein unentschiedener oder doch wenigstens zu wenig entschiedener. Denn, selbst wenn der Streit um die Schrift einen (entschiedenen) Ausgang nähme (und) nicht (den), beide Teile gleichzustellen, so würde es doch die Natur der Dinge erheischt haben, zuvor die Frage aufzuwerfen, die jetzt allein zu besprechen ist: wer ist der rechtmäßige Besitzer des Glaubens, wem steht das Eigentum auf die Schrift zu, von wem, durch wen, wann, wem ist die Lehre übergeben, wodurch man zum Christen wird?” (Tertullian, Prozessreden gegen die Irrlehrer, Nr. 19.)1 

“Auf Grund dessen erheben wir also die Prozesseinrede: Wenn Christus, der Herr, Apostel zum Predigen ausgesandt hat, so dürfen andere Prediger, als Christus angeordnet hat, nicht zugelassen werden. Denn es kennt ja auch kein anderer den Vater, als der Sohn und wem es der Sohn geoffenbart hat (Mt 11,27), und der Sohn hat es augenscheinlich keinem anderen geoffenbart, als den Aposteln, die Er zum Predigen aussandte, nämlich zur Predigt dessen, was Er ihnen geoffenbart. Was sie aber gepredigt haben, d.h. was Christus ihnen geoffenbart hat - auch dahin geht meine Einrede -, das darf auf keinem anderen Wege bewiesen werden, als durch eben die Kirchen, die die Apostel persönlich gegründet haben, indem sie selbst ihnen predigten, sowohl durch das lebendige Wort, wie man zu sagen pflegt, als auch später durch Briefe. Wenn dem so ist, so steht es also fest, dass jede Lehre, welche mit jenen apostolischen Kirchen, den Müttern und Wurzeln des Glaubens, in Übereinstimmung steht, für Wahrheit anzusehen ist, indem sie das festhält, was die Kirchen von den Aposteln empfangen haben, die Apostel von Christus und Christus von Gott” (Tertullian, Nr. 21). 

“Das Wort Gottes ... bedarf zum Verständnis richtigen Blicks und richtigen Gefühls, damit man die Bedeutung jeder Ausführung recht sieht. Es bedarf aber auch der Tradition. Denn man kann nicht alles aus der Schrift entnehmen. Deshalb haben auch die heiligen Apostel einiges in Schriften, anderes in der Überlieferung hinterlassen” (Epiphanius, Arzneikästlein 61,6). “Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der Kirche dazu bestimmte” (Augustinus, Gegen den sog. “Grundbrief” der Manichäer 5,6). 

“Oft habe ich eifrigst und angelegentlichst viele durch Heiligkeit und Gelehrsamkeit hervorragende Männer gefragt, wie ich auf sicherem, gangbarem und geradem Weg den wahren katholischen Glauben von den falschen Irrlehren unterscheiden könne. Stets erhielt ich von fast allen die Antwort: Wenn ich oder ein anderer den Trug auftretender Irrlehren aufdecken, ihrer Schlinge entkommen und im gesunden Glauben gesund und unverletzt verharren wolle, so müsse ich auf doppelte Weise mit Gottes Gnade meinen Glauben schützen, einmal durch die Autorität des göttlichen Gesetzes, dann durch die Überlieferung der katholischen Kirche. 

Hier könnte einer fragen: Da der Schriftkanon doch vollkommen ist und zu allem vollständig hinreicht, wozu muss ich ihm noch die Autorität kirchlicher Erkenntnis zugesellen? Deshalb, weil die Heilige Schrift wegen der ihr eigenen Tiefe nicht von allen in ein und demselben Sinn verstanden wird, ihre Aussprüche von jedem verschieden erklärt werden und es daher den Anschein hat, als könnten fast so viele Meinungen aus ihr hergeleitet werden, als es überhaupt Menschen gibt ... Deswegen ist es wegen so vieler Winkelzüge verschiedenster Irrtümer sehr notwendig, dass bei der Erklärung der prophetischen und apostolischen Schriften die Richtschnur nach Maßgabe des kirchlichen und katholischen Sinnes gezogen werde” (Vinzenz von Lerin, Merkbuch 2;22). 

Es darf also auf der einen Seite die Bedeutung der Heiligen Schrift nicht einseitig überbewertet werden - dies würde zu unlösbaren Widersprüchen führen. Diesen Fehler macht der Protestantismus seit der „Reformation“ des 16. Jahrhunderts, also auch die so genannten „Freikirchen“ der Gegenwart. 

Auf der anderen Seite darf aber der Schriftkanon auch nicht vernachlässigt werden! Denn sind doch die biblischen Texte (beim richtigen Zugang zu ihnen) als Träger des gesprochenen und somit lebendigen Wortes Gottes anzusehen! Dadurch erhalten sie auch ihre Bedeutung, die keinesfalls zu unterschätzen ist. Als niedergeschriebenes Wort Gottes liefert die Schrift eine Menge an Glaubensinformation und an geistlichen Anregungen für das Leben mit dem Herrgott. Erkennen wir also die richtige Bedeutung und den Wert der Heiligen Schrift, räumen wir ihr in unserem Leben den ihr gebührenden Stellenwert, werden wir dann unter anderem auch in der Lage sein, der einseitigen typisch protestantischen Überbewertungen der Bibel vorbeugen. 

 

P. Eugen Rissling

 


1 Alle Väterstellen, auch im folgenden, sind dem Buch “Rudloff, Leo von, Das Zeugnis der Väter. Regensburg 1937, S. 35-37, 43-46" entnommen

 

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