Kirchliche Tradition und die Heilige Schrift
 

Teil 1

Urchristentum und das Neue Testament 

Eine überaus wichtige Rolle im Leben der katholischen Kirche spielt die Heilige Schrift, auch „Bibel“ (biblos, biblia - beschriebenes Blatt, Buchrolle) genannt, die die Schriften des Alten und des Neuen Testaments enthält. Aus ihr schöpft die katholische Kirche unentwegt eine Menge Anregungen für ihr religiöses Leben mit Gott. In jeder Heiligen Messe kommt eine Lesung1 und ein Evangelium vor, die den verschiedenen einzelnen Schriften der Bibel entnommen werden und speziell an Sonn- und Feiertagen nach dem Wunsch der Kirche in der Predigt erklärt werden sollen. Auch das kirchliche Breviergebet, das Pflichtgebet des katholischen Klerus und der Ordensleute, enthält Abschnitte sowohl aus dem Neuen als auch aus dem Alten Testament. 

Gleichermaßen erkennt auch das Lehramt der Kirche die enorme Bedeutung der Heiligen Schrift an, indem es in der Vergangenheit immer wieder auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit der ernsthaften Beschäftigung mit ihr hingewiesen hat. Die besondere Rolle der Bibel in der Glaubenspraxis der Kirche wird unter anderem auch dadurch unterstrichen, dass sämtliche Glaubensdogmen, die die Kirche feierlich verkündet, neben den Belegen aus der lebendigen Überlieferung direkt oder indirekt eine Grundlage auch in der Heiligen Schrift finden müssen. Diese Berufung auf die Bibel ist eines jener Elemente, das den meisten der inzwischen leider sehr zahlreichen nicht-katholischen aber christlichen Religionsgemeinschaften eigen ist, und das wenigstens nach außen hin den Eindruck eines verbindendes Gliedes zwischen allen christlichen Konfessionen vermittelt. Es gibt nämlich kaum eine christliche Konfession oder Sekte, die die Bibel nicht für ihren Bereich als etwas durchaus Wichtiges erachten, sich auf sie berufen und sie als einen (vermeintlichen) Beweis für die Richtigkeit ihrer eigenen Lehren heranziehen würde. Umso erstaunlicher und wenigstens für Außenstehende sogar befremdender ist der Umstand, dass es trotzdem keine einheitliche Auslegung der Heiligen Schrift gibt. Inzwischen sind so viele Auslegungsversionen der Bibel und ihrer einzelnen Schriften verbreitet, wie viele Gemeinschaften es gibt, die sich auf eben diese Bibel berufen. Dies ist um so bemerkenswerter, als die meisten der protestantischen Gemeinschaften im Unterschied zur katholischen Kirche die Heilige Schrift als die einzige (!) Quelle ihres Glaubens betrachten. Was nicht ausdrücklich und wörtlich in der Bibel enthalten sei, könne nach ihnen nicht als die Lehre Jesu Christi gelten. Und dennoch unterscheiden sich ihre Auslegungsversionen der Heiligen Schrift teilweise sogar stark voneinander. 

Wie steht es nun genau um die Heilige Schrift? Wie ist sie zu bewerten und auszulegen? Wie sieht das Verhältnis der katholischen Kirche zu ihr aus? Dieses Thema wollen wir nun zum Gegenstand unserer Überlegungen machen. 

Zunächst sei erwähnt, dass außer dem einen im Zusammenhang mit der durch die Pharisäer erfolgten Anklage der Ehebrecherin auf Sand geschriebenen Wort (vgl. Joh 8,6.8) nichts mehr überliefert wird, was Jesus selbst geschrieben haben sollte. Des weiteren sei darauf hingewiesen, dass in der gesamten neutestamentlichen Offenbarung Jesus Christus kein einziges Mal an irgend jemand den Auftrag erteilt, eine Bibel oder etwas dergleichen zu schreiben! Statt dessen ist eindeutig und eindrucksvoll Sein Missionsauftrag an die Apostel zu vernehmen, die Völker zu Jüngern zu machen, indem diese getauft und alles zu halten gelehrt werden sollten, was der Herr selbst jenen (den Aposteln) aufgetragen hat (vgl. Mt 28,19f.). Also steht die Predigt der Apostel im Vordergrund, die Glaubensverkündigung und die Sakramentenspendung! Ein Jünger Christi wird man demnach nur durch die gläubige Annahme der Person und der Lehre Jesu Christi und die sich daran anschließende Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes, wie es sich auch im Falle jenes Äthiopiers abgespielt hatte, von dem die Apostelgeschichte berichtet (Apg 8,26-38). Auch bei der ersten uns im Evangelium überlieferten Aussendung der Apostel erhielten sie den Auftrag, das Himmelreich zu verkünden, Kranke zu heilen, Tote aufzuwecken, Aussätzige rein zu machen, Dämonen auszutreiben (vgl. Mt 10,5-8). Von einem eventuellen Auftrag, sich als Schriftsteller zu betätigen, ebenfalls keine Spur! 

Auf das enorme Gewicht und den Stellenwert, den in der apostolischen Zeit die christliche Glaubensverkündigung besaß, verweist auch der hl. Paulus: “Doch wie sollen sie (die Israeliten) Den anrufen, an Den sie nicht glauben? Wie sollen sie an Den glauben, von Dem sie nichts gehört haben? Wie von Ihm hören, wenn ihnen niemand predigt? Wie kann man aber predigen, wenn man nicht gesandt ist? (...) Somit kommt der Glaube aus der Predigt, und die Predigt geschieht im Auftrag Christi” (Röm 10,14-17). Also wird von einem Jünger Jesu Christi ein lebendiges Zeugnis - in Wort und Tat - verlangt, um den Missionsauftrag der Kirche erfüllen zu können. 

Bezeichnenderweise erhielt in der Kirche von Anfang an niemand die Erlaubnis zum Predigen, der nicht ausdrücklich dazu bestellt wurde. Niemand durfte offiziell-liturgisch im Auftrag der Kirche das Wort Gottes verkünden, der nicht durch eine sakramentale Weihe von der Kirche eigens dazu bevollmächtigt wurde. Die Handauflegung, die bei der Aussendung des Paulus und des Barnabas in Antiochien unter Gebet erfolgte (Apg 13, 1ff.), weist wohl auf eine Weihe hin und kann somit als ein Beleg dafür herangezogen werden. Darauf hat sich die katholische Kirche schon immer berufen, wenn sie im Bischof den eigentlichen Träger des kirchlichen Lehramtes sah und grundsätzlich erst mit dem Empfang der Diakonatsweihe die Erlaubnis zum Predigen gewährte. 

In der ersten Zeit nach der Himmelfahrt Christi lebten noch die meisten Apostel. Nur Jakobus der Ältere wurde bald getötet. So fand der Glaube an Jesus Christus seine Verbreitung durch das lebendige Wort der Apostel (vgl. Apg 4,33). Auch sonst gab es noch viele Augen- und Ohrenzeugen der Heilstaten Christi2. Diese waren somit in der Lage, etwa im privaten Rahmen (z.B. als Eltern in den Familien) den Glauben (z.B. an ihre Kinder) weiterzugeben und zu festigen. Mit dem allmählichen Aussterben der Augen- und Ohrenzeugen Christi sah sich die junge Kirche allerdings veranlasst, den Inhalt der Predigt unseres göttlichen Herrn schriftlich zu fixieren. Es lag auf der Hand, die heilsrelevanten Ereignisse zum Zweck der sicheren Überlieferung an die künftigen Generationen schriftlich niederzulegen. Sowohl der Umstand, dass es mit der Zeit immer weniger Apostel gab bzw. dass sie in alle Welt auszogen, als auch die Tatsache dieser geographischen Ausbreitung des christlichen Glaubens brachte außerdem noch die Notwendigkeit der Bestellung von kirchlichen Amtsträgern mit sich, die selbst nicht mehr persönlich die historische Gestalt Jesu Christi gekannt und erlebt haben. So kam es zur Abfassung von Evangelien als den (relativ kurzen) Zusammenfassungen des Lebens und Wirkens Jesu Christi. Daneben entstanden mit der Zeit auch die sogenannten Apostolischen Briefe des hl. Paulus und einiger anderer Apostel. Dabei stand und fiel das Gewicht dieser Schriften mit dem Zeugnis der betreffenden Apostel: “Das ist der Jünger, der davon Zeugnis gibt und der dies niedergeschrieben hat, und wir wissen, sein Zeugnis ist wahr” (Joh 21,24)! Mit anderen Worten: kein Außenstehender konnte und durfte den Anspruch erheben, authentisch über die Heilsereignisse zu berichten. 

Den damaligen Zeitgenossen war es aber ebenfalls klar, dass diese Schriften des Neuen Testaments keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erheben können und wollen! Der Lieblingsjünger Christi schreibt nämlich: “Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor den Augen Seiner Jünger, die nicht niedergeschrieben sind in diesem Buch” (Joh 20,30); “Es gibt noch vieles andere, was Jesus tat; wollte man dieses einzeln niederschreiben, so, glaube ich, würde selbst die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären” (Joh 21,25). Es wird ersichtlich, dass die Bücher des Neuen Testamentes, das uns ja hier primär interessiert, schon bei ihrer Abfassung, und zwar von den Autoren selbst (!), nicht als solche Schriften betrachtet wurden, die jede Einzelheit und jedes Detail des Lebens und Wirkens Christi enthalten. Zwar sollte das niedergeschriebene Wort zum Glauben an den Gottessohn führen (vgl. Joh 20,31), daneben gab es aber im Leben der Kirche noch das gesprochene, von den Vorfahren übermittelte Wort, das seinerseits bis auf die Apostel zurückreichte und somit auch in Treue gehütet und weitergegeben wurde - die lebendige Überlieferung der Kirche! 

Seit der Abfassung der einzelnen Schriften, seit dem Ableben der Apostel verlief somit die Glaubensvermittlung auf zweifache Weise: teils zog man die mündlich in der Kirche übermittelte Predigt Jesu Christi und Seiner Apostel heran, und teils berief man sich auf das geschriebene Wort der allmählich entstehenden Heiligen Schriften. Und zwar wurden diese beiden Säulen der christlichen Glaubensverkündigung so betrachtet, dass sie sich gegenseitig ergänzten und bestätigten und daher sich auch keinesfalls inhaltlich widersprechen können. 

Somit aber ist unter anderem auch das inzwischen in vielen anderen Kreisen ziemlich verbreitete protestantischen „Grunddogma“ widerlegt, das die Bibel als die einzige Norm des christlichen Glaubens betrachtet! Wäre es so, müsste man sich auch fragen, wo denn dies in der Bibel stehe. Nein, die Heilige Schrift legt im Gegenteil ein beredtes Zeugnis für die kirchliche Tradition ab: “So steht denn fest, Brüder, und haltet euch an die Überlieferungen, die ihr mündlich oder schriftlich von uns empfangen habt” (2 Thess 2,15)! 

Da die Bibel genau genommen die schriftliche Fixierung eines Teiles des in der Kirche ursprünglich mündlich tradierten Glaubens ist, gehört sie zur Tradition der Kirche, ist sie ein Teil von ihr. Daher ist es ein grobes Unrecht, die Heilige Schrift gegen die Kirche und gegen ihre Tradition ausspielen zu wollen! 

Besonders die Apostolischen Briefe, die zum Kanon der Heiligen Schrift gehören, zeigen an, dass sie oft aus einem ganz bestimmten aktuellen Anlass verfasst wurden. Entweder weil die einzelnen Gemeinden Gefahr liefen, von der rechten Lehre abzukommen, oder weil in ihnen bestimmte Missbräuche entstanden, sahen sich die Apostel veranlasst, die betreffenden Gläubigen, die von den Aposteln nicht ohne weiteres (sofort) persönlich aufgesucht werden konnten, zu unterrichten, zu ermuntern, zu ermahnen und zu warnen. Auch sonst behandeln diese Briefe mehr oder weniger einzelne Punkte des christlichen Glaubens und der Moral, keinesfalls wollen sie eine allumfassende und lückenlose Darstellung des gesamten Glaubens bringen! So behandelt z.B. der hl. Paulus das Thema der Ehe und Jungfräulichkeit, weil er offensichtlich darüber befragt wurde oder wenigstens seine Stellungnahme dazu als notwendig erachtete: “Um auf das zu kommen, wovon ihr geschrieben habt, so ist es ...” (1 Kor 7,1). Auch führt er den Korinthern die rechte Ordnung der Messfeier vor Augen (vgl. 1 Kor 11,23ff.), anscheinend weil in ihrer diesbezüglichen Praxis grobe Missbräuche Einlass gefunden haben (vgl. 1 Kor 11,17-22). Im Bewusstsein, noch nicht alles ausgeführt zu haben, ergänzt er zum Schluss: “Das übrige will ich anordnen, wenn ich komme” (1 Kor 11,34). 

Das Gewicht, das die mündliche Überlieferung in der Glaubensvermittlung der Kirche spielt(e), wird ebenfalls erkennbar an der Stellung der Kirchenväter bzw. der Kirchenlehrer. Meistens waren es Bischöfe, die aufgrund der Heiligkeit des Lebens und der Lehre innerhalb der Kirche hohes Ansehen genossen haben. Sie gaben besonders exakt und eindrucksvoll den katholischen Glauben wider. Deshalb berief man sich auch gern auf sie, deshalb besaß neben der besonderen Autorität der Apostel auch ihr Wort (!) hohes Gewicht innerhalb der Christenheit. Diese Tatsache unterstreicht den Umstand, dass bereits in der alten Kirche keinesfalls die Bibel allein hoch im Kurs stand, dass man in Streitfragen nicht ausschließlich sie befragt und sich einzig auf sie berufen hat. Nein, unbeschadet der hohen Autorität der Heiligen Schrift, des geschriebenen Wortes Gottes, hat die Kirche von Anfang an ihr Gehör auch der mündlichen Überlieferung, der kirchlichen Tradition, geschenkt und ihren Glauben auch von ihr prägen lassen! 

So ist bei den Kirchenvätern z.B. folgendes zum Verhältnis Tradition-Bibel zu finden: “´So steht denn fest, meine Brüder! Haltet euch an die Überlieferungen, die ihr mündlich oder schriftlich von uns empfangen habt´ (2 Thess 2,15) Es ist also klar, dass die Apostel nicht alles schriftlich, sondern vieles auch ungeschrieben hinterlassen haben. Jenes wie dieses ist in gleicher Weise glaubwürdig. So wollen wir die kirchliche Überlieferung als glaubwürdig erachten” (Johannes Chrysostomus, 2 Thessalonicherbrief 4,2)3
“Weisst du denn nicht, dass in den Kirchen die Gewohnheit besteht, den Getauften nachher die Hände aufzulegen und so den Heiligen Geist herabzurufen? (In der Frühzeit der Kirche wurde das Sakrament der Firmung oft zusammen mit der Taufe gespendet - Anm. des Autors.) Du fragst, wo das geschrieben steht? In der Apostelgeschichte. Aber selbst wenn die Autorität der Schrift hier versagte, die in diesem Punkt einmütige Gewohnheit der ganzen Welt würde die Bedeutung eines Gebotes haben. Denn noch vieles andere, was der Überlieferung nach in den Kirchen beobachtet wird, beansprucht die Autorität geschriebenen Gesetzes” (Hieronymus, Gespräche gegen die Luziferianer 8). 
“Was die Gesamtkirche festhält, auch wenn es von keiner Kirchenversammlung so bestimmt ist, wird mit vollem Recht als durch apostolische Autorität überliefert betrachtet” (Augustinus, Die Taufe 4,24,31).

 

P. Eugen Rissling
 

 


1In wenigen Fällen, z.B. an den Quatembersamstagen und in der Osternachtsliturgie, auch mehrere.
2Der an die Stelle des Judas Iskariot nachgewählte Apostel - Matthias - musste eben diese Bedingung unbedingt erfüllen (vgl. Apg 1,21f.). 
3Alle Väterstellen, auch im folgenden, sind entnommen: Rudloff, Leo von, Das Zeugnis der Väter. Regensburg 1937, S. 43-45.

 

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