Kirchliche Tradition und die Heilige Schrift


Teil 3

 Zur historischen Entstehung des Neuen Testamentes 

In den bisherigen zwei Folgen unserer Ausführungen haben wir uns Gedanken über das Verhältnis des Urchristentums zum Neuen Testament, über die kirchliche Urheberschaft und zur Frage der Auslegung der Heiligen Schrift gemacht. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die Erkenntnis, dass die Evangelien und die sonstigen Schriften des Neuen Testamentes Schriften der katholischen Kirche sind, einen Teil ihrer lebendigen Glaubenstradition bilden und demzufolge auch nur im Sinne dieser Kirche Jesu Christi ausgelegt werden können und dürfen. 

Nicht geringer aktuell und für uns interessant ist auch die Frage nach der historischen Entstehung der einzelnen Schriften, wann sie zeitlich genau verfasst worden sind. Hängt ja auch davon sehr viel ab. Lässt sich nämlich ihre Entstehung zweifelsohne ins apostolische Zeitalter datieren, werden sich die von uns bisher gewonnenen Erkenntnisse bestätigen lassen. (Sollte es sich aber ergeben, dass diese Schriften viel später entstanden sind, würde dies folgerichtig zu wohl berechtigten Zweifeln an der Autorität der Heiligen Schrift führen.) 
 

Eines der Grunddogmen der modernen, modernistischen Exegese (=Schriftauslegung) ist die bereits im 19. Jahrhundert entstandene Auffassung, dass die Evangelien nicht vor dem Jahre 70 nach Christus entstanden werden konnten. Als Hauptgrund dafür wird die in den Evangelien nach Matthäus (24,1f.), Markus (13,1f.) und Lukas (21,5f.20) enthaltene Weissagung Jesu Christi über den Untergang der Stadt Jerusalem angegeben. Die Vertreter dieser These gehen davon aus, dass diese Ausführungen in den Evangelien eigentlich überhaupt keine Weissagungen seien, die ja an sich vor dem tatsächlichen Eintreten des Ereignisses ausgesprochen werden, sondern lediglich Verweise auf das bereits eingetroffene Geschehen. Es werde nicht berichtet, was geschehen werde, sondern nur, was schon geschehen ist. 

Ähnlich wird auch im Hinblick auf das im Matthäusevangelium enthaltene Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (22,1ff.) argumentiert. Wenn es dort heiße, der König „sandte seine Truppen aus, ließ jene Mörder umbringen und ihre Stadt in Brand stecken“ (22,7), dann würde dies bedeuten, dass diese Zeilen nur unter dem Eindruck der Zerstörung Jerusalems durch die Truppen Roms im Jahre 70 nach Christus geschrieben werden konnten. Und wir sehen, welche schwerwiegenden Folgen sich aus dieser Behauptung der modernen Bibelkritik ergeben. Dann liegt den Evangelien wenigstens beim Bericht über den Untergang Jerusalems keine Weissagung Jesu Christi zugrunde, sondern nur Worte, die Ihm von den Aposteln im Nachhinein in den Mund gelegt worden sind. Es müssten dann nicht nur die Apostel und Evangelisten als Betrüger entlarvt werden, da sie ja etwas verkündet haben, was sie nicht von Jesus gehört, sondern selbst erfunden hätten. Auch die Evangelien und die übrigen Schriften des Neuen Testamentes würden dann sowohl ihrer Würde als auch ihrer immensen Bedeutung für das Glaubensleben eines Christen beraubt, da sie ja größtenteils lediglich ein Produkt der persönlichen Reflexion und der privaten Überlegung deren Verfasser, also einfacher sterblicher Menschen, darstellten. Dann interessiert man sich dafür halt höchstens hobbymäßig. Und letztendlich läuft bei der modernistischen Exegese alles darauf hinaus, dass auch die Gottheit Jesu Christi geleugnet wird. Denn sie zieht ja nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit in Betracht, dass Jesus an den betreffenden Stellen vielleicht doch eine Prophezeiung ausgesprochen habe, dass Er vielleicht doch in der Lage gewesen sei, ein zukünftiges Ereignis vorauszusehen und vorauszusagen. Im Gegenteil, für sie steht wie ein felsenfestes Dogma unerschütterlich fest, dass Jesus dies grundsätzlich nicht tun konnte, woran auch nicht zu rütteln sei. Und das ist pure Ideologie und keine sich an der Wahrheit orientierende Wissenschaft! 
 

Denn wenn man den Text der Weissagung über die Zerstörung Jerusalems genau untersucht, findet man Hinweise, die in ihrer Logik nicht nur die Möglichkeit einer Abfassung der Evangelien vor dem Jahre 70 nach Christus eröffnen, sondern auch zwingend für ein Abfassungsdatum vor diesem Stichjahr sprechen. Wenn man die ganzen Kapitel Mt 24, Mk 13 und Lk 22 liest, kann man sich nämlich des Eindrucks nicht erwehren, als komme mit dem Fall Jerusalems auch das endzeitliche Ende der Welt. Denn hier wird diese Zerstörung Jerusalems so eng mit der Wiederkunft Christi in Verbindung gebracht, so dass man als Zuhörer der Apostel vor 70 nach Christus ohne weiteres hatte annehmen müssen, beide Ereignisse würden unmittelbar aufeinander folgen. 

Nun ist es uns aber aus dem Geschichtsunterricht bekannt, dass mit der Zerstörung Jerusalems kein Ende der Welt gekommen ist. Zweifelsohne hätten die Apostel und Evangelisten diese Diskrepanz zwischen der Prophezeiung Jesu und den tatsächlichen Ereignissen erklären müssen, hätten sie diese Prophezeiung selbst erfunden, und zwar erst unter dem Eindruck des Falls Jerusalems, d.h. erst nach dem Jahre 70 nach Christus. Ihr Kommentar dazu wäre zu erwarten, zumal der Eindruck entstehen konnte, Jesus habe mit Seiner Prophezeiung geirrt. Davon lässt sich aber im ganzen Neuen Testament nichts finden! Da aber die Apostel im Unterschied zu Jesus nicht von den künftigen Ereignissen wissen konnten, lässt dies also darauf schließen, dass die hl. Schriftsteller diese Weissagung nicht erfunden, sondern von niemand anders als von Christus selbst vernommen und unbedingt vor ihrem Eintreten (verkündet und) aufgeschrieben haben! 
 

Außerdem enthält diese Weissagung keinen Bericht über konkrete kriegerische Handlungen. Hätten die Evangelisten wirklich die stark unmoralische Absicht besessen, die ihnen im Gefolge des „Dogma“ der modernen Bibelkritik unterstellt werden müsste, Jesus von sich aus und erst im nachhinein als eine prophetisch begabte Person hinzustellen, hätten sie sich sicher näher über Kriegshandlungen ausgelassen, um dadurch bei ihren Lesern noch mehr die Prophetiebegabung Jesu zu untermauern. Die Tatsache aber, dass die betreffenden Prophezeiungen eher allgemein gefasst worden sind, bestärkt die Schlussfolgerung, dass diese Evangelien vor dem Jahre 70 nach Christus verfasst werden mussten! Unterstrichen wird dies auch durch die Nennung des Ortes, an welchem nach den Evangelien nach Matthäus und Markus der hl. Petrus das Bekenntnis von der Gottessohnschaft Jesu abgelegt hat. Es heißt, dass Jesus „in die Gegend von Cäsarea Philippi kam“ (Mt 16,13) bzw. „in die Ortschaften bei Cäsarea Philippi zog“ (Mk 8,27). Allerdings wurde diese Stadt im Jahre 66 nach Christus von König Agrippa II. in Neronias umbenannt. Demnach müssen diese beiden Evangelien noch vor diesem Datum verfasst worden sein. Das Matthäusevangelium berichtet noch von der Aufforderung zur Flucht in die Berge (24,16). Dies entspricht aber nicht den wahren Geschehnissen, denn die Christen flohen nach Ausbruch des Krieges im Jahre 66 nach Pella, das nicht in den Bergen liegt! Wäre dieses Evangelium in den Jahren nach 70 geschrieben worden, hätte man sicherlich versucht, beides miteinander in Einklang zu bringen. 
 

Einen wichtigen Hinweis liefert die Apostelgeschichte. In deren 21. Kapitel wird ausführlich von der Gefangennahme des hl. Apostels Paulus in Jerusalem berichtet. Was danach in der Apostelgeschichte bis zu deren Ende (28. Kapitel) folgt, ist eine ausschließliche und ununterbrochene Berichterstattung über das weitere Schicksal dieses Völkerapostels: sowohl seine zahlreichen Verteidigungsreden vor verschiedensten Personen und Gremien als auch weitere historische Ereignisse um ihn herum bis nach seiner Ankunft in Rom, wo er sich als Römischer Bürger vor dem Kaiser verantworten wollte. Acht Kapitel lang werden die Leser der Apostelgeschichte richtig in Spannung gehalten mit informativen Berichten über sein Schicksal. Zuletzt wird noch einiges über seinen Aufenthalt in der Hauptstadt des Römischen Imperiums erzählt. Aber wir vernehmen absolut nichts über den Ausgang der Gerichtsverhandlung selbst! Wie ist es möglich, dass acht Kapitel lang beinahe in aller Ausführlichkeit über sein Leben berichtet wird, nichts aber zu vernehmen ist über das endgültige Ergebnis des Prozesses, weil hier alles plötzlich abreißt? Dafür gibt es eigentlich nur eine plausible Erklärung, dass diese Apostelgeschichte nämlich bis zu diesem Zeitpunkt geschrieben worden ist und beim Ausgang des Prozesses als solche bereits abgeschlossen vorlag! Da der Tod des Apostels in die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems fällt, muss sie etliche Jahre vor diesem Ereignis verfasst worden sein. Dafür spricht auch der Umstand, dass sie ebenfalls nichts über den Martertod des Herrenbruders Jakobus berichtet, der gegen 62 nach Christus vom Hohenpriester Ananus hingerichtet wurde, obwohl in der Apostelgeschichte sonst alle wichtigen Martyrien eine Erwähnung finden. 
 

Und daraus ergeben sich dann Konsequenzen für die Entstehungszeit der Evangelien. Denn eingangs bezieht sich die Apostelgeschichte (1,1ff.) eindeutig auf das Lukasevangelium: „Im ersten Buch, Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat bis zu dem Tage, da Er ... in den Himmel aufgenommen wurde“. Demnach muss dieses Lukasevangelium zeitlich vor der Apostelgeschichte verfasst worden sein, und die Matthäus- und Markusevangelien dementsprechend noch früher, da man davon ausgeht, dass sie als erste geschrieben wurden. 

Das sind nur einige Überlegungen und Hinweise, die alle für die Entstehung der ersten drei, den sogenannten synoptischen, Evangelien in der Zeit weit vor 70 nach Christus sprechen. Der Frage nach deren genaueren Datierung wollen wir nicht weiter nachgehen, man nahm dafür in der katholischen Kirche schon immer die Jahre zwischen 40 und 60 nach Christus an. Dies wird auch durch neuere Handschriftenfunde und Untersuchungsergebnisse äußerst eindrucksvoll bestätigt (vgl. dazu „Beiträge“/10, S. 21-23)! Wir begnügen uns hier mit der Erkenntnis, dass den Evangelien, da sie unter anderem auch wirkliche Prophezeiungen Jesu Christi enthalten, keine persönliche bzw. private Glaubensreflexion der Jünger Jesu Christi zugrunde liegen, sondern die tatsächlich gehörten Worte der Predigt unseres göttlichen Erlösers! Somit werden die gänzlich unwissenschaftlichen und ideologischen Grundlagen der modernen Exegese erschüttert, ihre „Wahrheiten“ widerlegt! Und vor allem behält die Heilige Schrift selbst die ihr zukommende Würde und Autorität innerhalb der lebendigen Überlieferung der katholischen Kirche! 
 

Kann man aber sicher sein, dass sich die Apostel und Evangelisten einige Jahrzehnte nach den Ereignissen, von denen sie berichteten, noch genau daran erinnern konnten? Nun, wir wissen welchen Eindruck die Worte Christi auf Seine Zuhörer machten. Zum Schluss der Bergpredigt heißt es z.B.: „Als Jesus diese Reden beendet hatte, wurden die Volksscharen von Staunen über Seine Lehre ergriffen. Denn Er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten und Pharisäer“ (Mt 7,28f.). Und wenn schon die übrigen Zuhörer Jesu merkten, dass sich hier etwas Außergewöhnliches abspielte, musste denn dies Seinen Jüngern, die doch wesentlich mehr gehört und erlebt haben, nicht auch bewusst geworden sein? Und wenn endlich das heißersehnte und sehnsüchtig herbeigewünschte messianische Zeitalter anbricht (vgl. das Bekenntnis Petri zur Messiaswürde Christi), was auch immer die Jünger selbst zunächst darunter verstanden haben mochten, ist man da unter anderem nicht auch auf jedes Wort, das aus dem Munde des Messias kommt, besonders aufmerksam? Entsprechend prägt man sich das dann auch im Gedächtnis ein, zumal man auf diese Worte wiederholt bei der eigenen Glaubensverkündigung zurückgreift? „Vor allem darf man die Bedeutung der mündlichen Überlieferung nicht gering ansehen. Die jüdische Kultur war nicht nur eine Schrift-, sondern vor allem eine Gedächtniskultur. Ein jüdischer Schriftgelehrter hatte neben der ganzen Hl. Schrift auch noch die Fachtraditionen und Gesetzessammlungen auswendig zu wissen. Ein jüdischer Schüler wurde von Jugend auf daran gewöhnt, viel auswendig zu lernen, und auch im einfachen Volk dürfte die Fähigkeit, Texte auswendig zu behalten, enorm groß gewesen sein. 

Die Apostel waren darum sicher bemüht, die Worte Jesu möglichst wörtlich zu behalten. [...] Für die Apostel dürfte es also kein Problem gewesen sein, sich ganze Predigten wörtlich zu merken. [...] Die jüdische Kultur legte Wert auf die treueste Wiedergabe der Traditionen. Auf Kreativität kam es nicht an. Die Theorie von der Jesusgeschichten erfindenden Urgemeinde passt nicht in das Bild der jüdischen Welt. Welcher Wert auf die treueste Überlieferung gelegt wurde, klingt beim (rabbinisch geschulten) hl. Paulus an, der öfter betont: ´Ich habe überliefert erhalten ... Ich habe euch weitergegeben...´ (1 Kor 11,23; 15,3)“ 1 Zwar mag bei der durch die Missionierung unter den hellenischen Heiden notwendig gewordenen Übersetzung der Evangelien in die griechische Sprache (das Neue Testament wurde in Griechisch geschrieben) einiges von der ganz genauen Wörtlichkeit verloren gegangen sein, womit auch wahrscheinlich teilweise die Unterschiede in den Evangelien zu erklären sind, aber dennoch steht eindeutig fest, dass die Evangelisten einen möglichst genauen Bericht über die sich tatsächlich zugetragenen Heilsereignisse liefern wollten. 

 

P. Eugen Rissling

 


1 P. Matthias Gaudron in: Mitteilungsblatt der Priesterbruderschaft St. Pius X. für den deutschen Sprachraum. Dezember 1999.

 

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