Zur Frage der Religionsfreiheit


Teil 1

Eine der umstrittensten Lehren des “Zweiten Vatikanischen Konzils” ist die Erklärung über die Religionsfreiheit. Über keine der anderen Verlautbarungen des Vatikanums II. ist in der postkonziliaren Zeit mehr kontrovers diskutiert worden als über sie. Für die eine Seite stellt sie einen wichtigen Fortschritt im Denken der Kirche im Hinblick auf die Entwicklungen in der modernen Gesellschaft dar. Ihre Gegner erkennen in ihr dagegen einen offenen Bruch mit der überlieferten katholischen Lehre, weswegen sie am häufigsten bei der Kritik des Vatikanums II., die von den sog. traditionalistischen Katholiken geübt wird, Erwähnung findet. 

 

Die Lehre der Kirche von der Toleranz 

Schon lange in der vorkonziliaren Zeit hat die katholische Kirche wiederholt von den verschiedensten weltlichen Regierungen, die durch staatliche Maßnahmen die freie Ausübung der katholischen Religion behinderten oder untersagten, Religionsfreiheit verlangt. Bei dieser Forderung ging es ihr immer darum, zu erreichen, daß niemand am Erlernen, Praktizieren und Bekennen seiner katholischen Religion behindert werde, oder um dieser Religion willen irgendwelche Verfolgungen erleide. In den Beziehungen des Vatikanstaates z.B. zu den kommunistischen Regierungen der ehemaligen Ostblockländer spielte diese Forderung nach der Religionsfreiheit, die man als die Freiheit vom äußeren Zwang verstand, eine sehr große Rolle. Des elementaren Grundrechts, Gott in der einzig wahren Religion anzubeten und zu verehren, kann und darf niemand beraubt werden. 

Weil aber die Hinwendung zu Gott bei jedem Menschen nur aus freien Stücken erfolgen und die Zustimmung zur (vollen) göttlichen Wahrheit nicht erzwungen werden kann, hat die Kirche den anderen akatholischen oder auch nichtchristlichen Religionsgemeinschaften ebenfalls diese Freiheit vom äußeren Zwang zugebilligt. Dabei betrachtete sie aber diese Bekenntnisse nicht als der katholischen Religion gleichwertig, denn grundsätzlich hat nur die Wahrheit, und nicht der Irrtum, das Recht auf Existenz! 

Die Duldung der Unwahrheit sollte nur aus Toleranzgründen erfolgen. Das lateinische Wort tolerantia bedeutet so viel wie “Ertragen, Erdulden, Geduld, Duldsamkeit”. Somit bejaht tolerantes Verhalten die Unwahrheit und den Irrtum nicht, es stellt sie nicht auf die gleiche Stufe wie die Wahrheit. Sie werden nur ertragen, geduldet, weil die Zustimmung zur Wahrheit nicht mit Gewalt durchgesetzt werden darf. Denn die innere Zustimmung zu Gott und Seiner Wahrheit, um die es ja letztendlich gehen sollte, kann nur durch eine freie Entscheidung herbeigeführt werden. Die Toleranz beinhaltet ganz grundsätzlich auch das Bekennen und die Verbreitung des wahren Glaubens, gerade unter den Vertretern von tolerierten religiösen Gemeinschaften. (Selbstverständlich kann diese Missionstätigkeit nur mit sittlich erlaubten Mitteln betrieben werden.) Indifferentismus und religiöse Gleichgültigkeit können daher nicht rechtens aus der Haltung der Toleranz abgeleitet werden, der Pantheon der Religionen kann daher nicht auf dem Boden der authentischen christlichen Toleranz erbaut werden! 

Deswegen ist es nicht zufällig, daß die katholische Kirche als die einzig wahre Religion für sich selbst - trotz Toleranz! - stets den besonderen Schutz und die Förderung seitens der weltlichen Staaten (nicht so für die akatholischen und unchristlichen Gemeinschaften!) beansprucht hatte. Die Erhebung der katholischen Religion zur Staatsreligion hat nichts illegitimes oder unchristliches in sich, dadurch sollte sie nur unter umso günstigeren Bedingungen ihr segensreiches Wirken entfalten, u. a. auch zum Nutzen des jeweiligen Staates und der Gesellschaft. 

Als letzten Grund für diese Art von Religionsfreiheit betrachtet die katholische Kirche nicht etwa das “Recht des Menschen auf freie Selbstverwirklichung”, die heute so lautstark angepriesene Menschenwürde oder etwas derartiges. Auch nicht die Freiheit als solche spielt bei ihr die alles entscheidende Rolle, sondern einzig und allein Gott und die göttliche Wahrheit! Die Freiheit ist dem Menschen nicht einfach so gegeben, damit er sich etwa ausleben oder sich so entscheiden könne, wie es ihm gerade gefällt. Nein, der Mensch ist von Gott mit der Gabe der Freiheit ausgestattet worden, damit er sich (in Freiheit) letztendlich für Gott (d.h. für die Wahrheit) entscheide! Die Freiheit darf daher nicht orientierungslos sein (in moralischer Hinsicht), ohne Bindung an allgemeingültige Werte. Sie soll ein positives Ziel besitzen und einem guten Zweck dienen! “Die Freiheit ist ein sittliches Gut, uns Menschen gegeben zu unserer Vervollkommnung. Darum darf sie sich auch nur im Rahmen des Wahren und Guten betätigen”1. Damit widerstreitet die traditionelle kirchliche Lehre von der Religionsfreiheit und der Toleranz grundlegend dem modernen Liberalismus, der sich letztendlich aus jeder Bindung an ewige Werte befreit wissen will. Außerdem ist es für die weitere Behandlung unseres Themas äußerst wichtig zu beachten, daß die Kirche ihre Toleranzlehre von Gott her ableitet, Er ist der eigentliche Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Überlegungen! 

 

Die Lehre des Vatikanums II.

Die Erklärung dieser Bischofsversammlung über die Religionsfreiheit (Dignitatis Humanae) beinhaltet viel, was mit der überlieferten katholischen Lehre im Einklang steht oder auf den ersten Blick zu stehen scheint. So ist ihre Grundaussage, “in religiösen Dingen” die Freiheit “von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt” zu verlangen (Art.2). Ebenfalls wird von der “einzig wahren Religion” gesprochen und darauf hingewiesen, daß alle Menschen “verpflichtet” seien, “die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren” (Art.1). 

Dennoch fallen einem aufmerksamen Beobachter einige Konzilsgedanken auf, die nicht nur über die traditionelle kirchliche Lehre hinausgehen, sondern auch im klaren Widerstreit zu ihr stehen. So deutet die Erklärung selbst Neuerungen an, indem sie “beabsichtigt, zugleich die Lehre der neueren Päpste über die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person wie auch ihre Lehre von der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft weiterzuführen” (Art.1). Die “neueren Päpste” scheinen somit eine neuere Lehre zu vertreten, die die früheren Päpste so nicht kannten. Dadurch wird indirekt bemängelt, die frühere Kirche hätte “die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person” nicht gebührend beachtet und in ihrer Glaubensverkündigung zum Ausdruck gebracht. Damit wird aber der springende Punkt von Dignitatis Humanae angesprochen, um den es sich auch hauptsächlich handelt. 

Wie ein roter Faden zieht sich nämlich durch diese ganze Erklärung der Gedanke durch, “daß die menschliche Person das Recht 2 auf religiöse Freiheit hat” (Art.2).40 Wenigstens sieben Mal (!) wird in dieser nicht allzu langen Erklärung wörtlich auf dieses “Recht” verwiesen, um diese Frage des “Rechts” dreht sich auch alles. Scheinbar besteht kein Unterschied (oder wenigstens kein großer) zwischen der traditionellen kirchlichen Definition der “Religionsfreiheit” und den diesbezüglichen Darlegungen des Vatikanums II. Die genauere Analyse aber ergibt, daß es sich dabei um zwei ganz verschiedene Welten handelt! 

Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, ob jemand ein Recht auf etwas besitzt oder ob er um dieses Etwas willen nicht verfolgt werden dürfe. So besitzt z.B. jeder Staatsbürger irgendeines Landes das staatlich garantierte Recht auf einen Wohnsitz innerhalb des betreffenden Staatsterritoriums, ein Ausländer dagegen nicht. Diesem letzteren kann zwar aus politischen, wirtschaftlichen, moralischen o. ä. Überlegungen heraus ein Aufenthalt in diesem Land zugebilligt werden, von sich aus, als Bürger eines anderen Staates kann er allerdings keinen legitimen Rechtsanspruch auf einen Wohnsitz auf dem Gebiet eines fremden Staates erheben. Was er allerdings immer kann, ist, zu verlangen, nicht ohne weiteres wegen seines Aufenthalts im Ausland um sein Leben und Gesundheit bangen zu müssen. Da um der Natur der Sache willen nur die Wahrheit (und nicht die Lüge) das Existenzrecht besitzt, kann daher niemand prinzipiell das Recht beanspruchen oder zugesprochen bekommen, sich zu seiner akatholischen oder nichtchristlichen Religion zu bekennen! Wohl darf ein Akatholik wegen seiner religiösen Haltung auch seitens eines katholischen Staates keinen Gefahren für Leben und Gesundheit ausgesetzt werden; “das Recht auf religiöse Freiheit” (Art.2) - so wie es Dignitatis humanae wissen will - steht ihm dennoch nicht zu! 

So bezeichnete Pius IX. die Ansicht, “die Freiheit des Gewissens und der Religionen sei einem jeden Menschen eigenes Recht: dieses Recht müsse das Gesetz in jeder wohlgeordneten Gesellschaft proklamieren und sicherstellen” als “irrig und für die katholische Kirche und das Heil der Seelen im höchsten Grad zum Untergang führend”!3 

Und Leo XIII.: “Denn Recht bezieht sich auf die Erlaubtheit von etwas sittlich Gutem. ... Was wahr ist, was gut ist: das hat ein Recht darauf, sich in weiser Freiheit in der Gesellschaft auszubreiten, damit es zu recht vielen gelange”.4 “Aus diesen Gründen erkennt sie (die. kath. Kirche) einzig und allein der Wahrheit und dem sittlich Guten ein Anrecht zu. ... Denn es widerspricht der Vernunft, daß das Falsche gleiches Recht haben soll wie das Wahre.”5 Ja selbst das Vatikanum II. gesteht, daß “die Offenbarung das Recht auf Freiheit von äußerem Zwang in religiösen Dingen nicht ausdrücklich lehrt” (Art.9), und daß diese Lehre etwas “Neues” darstellt (Art.1)! 

Als eine kurze Zusammenfassung der bereits vorgebrachten Argumente finden wir folgende Worte desselben Papstes: “Wenn die Kirche es auch nicht erlaubt, den verschiedenen fremden Religionsformen dasselbe Recht einzuräumen wie der wahren Religion, so ist es doch eine Tatsache, daß sie Regierungen nicht verurteilt, wenn diese ... es dulden, daß diese (die fremden Religionsformen) als Einzelne im Staat bestehen dürfen. - Auch darüber pflegt die Kirche nachdrücklich zu wachen, daß niemand gegen seinen Willen zur Annahme des katholischen Glaubens genötigt wird, denn, so mahnt Augustinus in Weisheit, ´glauben kann der Mensch nur mit seinem (freien) Willen´ (Tract. 26 in Joan., n.2).”6 

 

Die Folgen

Um die ganze Tragweite der durch das Vatikanum II. und die “neueren Päpste” erfolgten Kursänderung zu erkennen, wollen wir uns deren weitreichende Folgen vor Augen führen. Das Recht auf freie Religionsausübung beinhaltet ja folgerichtig auch das Recht auf freie Religionswahl. Dies hat zur Folge, daß die Wahrheit keinen Vorzug mehr vor dem Irrtum, das sittlich Gute vor dem moralisch Schlechten hätte, denn der Mensch sei ja nun berechtigt, nach beiden Seiten hin völlig frei zu entscheiden! “Eine Freiheit in dem oben genannten Sinn würde daher dem Menschen die Befugnis zugestehen, seine heiligste Pflicht ungestraft zu verletzen und ihr untreu zu werden, und sich von dem unwandelbar Guten abzukehren und zum Bösen hinzuwenden.”7 Der christliche Glaube verliert somit seine einzigartige Stellung in der Heilsgeschichte, jede heidnische Religion (!) wird auf dieselbe Stufe mit ihm gestellt, das Christentum verkommt zu einer der vielen untereinander gleichberechtigten Religionen. Das sog. “interreligiöse Gebetstreffen” in Assisi von 1986 kam da nicht zufällig! 

Aber es geht noch weiter. “Recht” bedeutet ja auch “Legitimation”. Wenn etwas legitim, rechtens, rechtmäßig ist, dann ist sein Existenzrecht durch nichts auf der Welt zu erschüttern. Was auch immer gegen diese Sache vorgebracht werden mag, sie ist über jeden (berechtigten) Zweifel erhaben, ihr Dasein kann nicht zu Recht in Frage gestellt werden, und zwar grundsätzlich und unwiderruflich. Wie die ewige Wahrheit (allein!) absolut ist, so wird durch Dignitatis Humanae auch der Unwahrheit die göttliche Absolutheit zugesprochen, ob nun dieser Umstand dem einzelnen stimmberechtigten Konzilsteilnehmer voll bewußt war oder nicht! 

Da nun der Irrtum angeblich berechtigterweise existiere, habe niemand das Recht, gegen ihn vorzugehen, zu versuchen ihn zu widerlegen. Wer das aber dennoch zu tun sich bemühe, der begehe folgerichtig ein moralisches Unrecht, in der Sprache der Offenbarung heißt es: eine Sünde! Konsequent zu Ende gedacht (wer von den modernen Katholiken tut das?) bedeutet das (energische) Aufbegehren gegen die Unwahrheit ein sittliches Vergehen höchsten Grades! 

Angesichts dieses Umstandes verlieren jene Passagen der Konzilserklärung an Gewicht und Bedeutung, in denen die katholischen Kirche als die “einzig wahren Religion” bezeichnet und auf den Missionsauftrag der Kirche verwiesen wird. Entweder ist das Recht ein wahres Recht, oder nur ein leeres Wort. Wenn der Mensch tatsächlich das Recht auf freie Religionswahl und -ausübung besitzt, dann kann doch nicht im Ernst in demselben Augenblick auch noch von der Heilsnotwendigkeit des Glaubens an Jesus Christus, von der Notwendigkeit der christlichen Taufe und Lebensführung gesprochen werden! Beides widerspricht sich ganz entschieden und schließt sich ohne Kompromisse gegenseitig aus! 

Sehr aufschlußreich ist die Begründung, die vom Vatikanum II. für seine Erklärung über die Religionsfreiheit abgegeben wird, läßt sie doch den ganzen Gedankengang und somit die Motive zum Vorschein kommen. Der Toleranzgedanke der alten Kirche wurde ja mit dem Verweis auf die Schaffung der Möglichkeit einer freien und positiven Entscheidung zu Gott begründet. Die Freiheit besitzt somit keinen Selbstzweck, sondern steht im Dienste des sittlich Guten. Der letzte Grund für die Toleranz ist nichts anderes als Gott. 

Das Vatikanum II. versucht dagegen, seine Lehre von der neuinterpretierten “Religionsfreiheit” mit dem Verweis auf die menschliche Natur zu legitimieren: “Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird” (Art.2). “Was das Vatikanische Konzil über das Recht des Menschen auf religiöse Freiheit erklärt, hat seine Grundlage in der Würde der Person, deren Forderungen die menschliche Vernunft durch die Erfahrung der Jahrhunderte vollständiger erkannt hat” (Art.9). 

Diese Bischofssynode schafft somit eine neue Wertehierarchie. Nicht mehr wird alles von Gott her begründet und legitimiert, sondern vom Menschen, von “der Würde der menschlichen Person” her. Alles kreist nun um den Menschen, er wird in den Mittelpunkt der Begründung gerückt! Von Gott und der Wahrheit redet man nur so nebenbei, am Rande. Das “Wort Gottes” dient nur als ein Beleg für “die Würde der menschlichen Person”! Die größte Sorge gilt dem Menschen, damit ja nicht seine “Rechte” mißbraucht würden. Ja, man scheut sich nicht einmal - man muß sich das vorstellen -, sogar von den “geheiligten Rechten der Person” (Art.6) zu sprechen! Kann dieses Vokabular überhaupt dem Wortschatz eines vornehmlich auf Gott ausgerichteten Christen entstammen? Stellt es nicht eher eine Huldigung an den Zeitgeist dar, der den Menschen und dessen Fähigkeiten in den Mittelpunkt seiner atheistischen “Religion” stellt? 

P. Eugen Rissling



1Leo XIII., Apost. Rundschreiben Immortale Dei vom 01.11.1883. “Freude an der Wahrheit”, Nr.74, Wien, S.17.
2alle Hervorhebungen - auch in den Zitaten - erfolgen durch den Autor dieses Artikels. 
3LThK, Herder 1967 (Sonderausgabe), Band 13, SS. 713-747.
4Apost. Rundschreiben Quanta Cura vom 08.12.1864. “Freude an der Wahrheit”, Nr.52, S.5. 
5Apost. Rundschreiben Libertas Praestan-tissimum vom 20.06.1888. Fr. an d. W., Nr. 73, S. 18f.
6ebd., S.24f. 
7Leo XIII., Apost. Rundschreiben Immortale Dei vom 01.11.1883. “Freude an der Wahrheit”, Nr.74, Wien, S.20.


 

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