Die heilige Blutreliquie zu Weingarten

 1) Wallfahrtsorte. In der katholischen Welt ist eine Reihe von besonderen Orten oder Stätten bekannt, die wir als Wallfahrtsorte bezeichnen, zu welchen gläubige Menschen bisweilen pilgern, wo sie gern beten (sowohl in den eigenen Intentionen als auch für andere) und eventuell auch Buße tun. Solche Orte nehmen deswegen einen besonderen Stellenwert ein, weil in ihnen entweder ein ganz bedeutendes Ereignis der Heilsgeschichte stattgefunden hat oder weil dort ein Wunder oder eine außergewöhnliche Erscheinung des Himmels zu beobachten war oder weil dort von Jesus oder einem der Heiligen zu einem oder mehreren der so genannten Seher gesprochen wurde. Oft zeichnen sich die Wallfahrtsorte auch dadurch aus, dass sie entweder Ruhestätten oder Reliquien von Heiligen beherbergen. Und weil man mit solchen Orten eine besondere Nähe des Himmels verbindet, pilgert man gern dorthin und erhofft sich da eine besondere Erhörung der Gebete!
Die drei klassischen Wallfahrtsorte des christlichen Altertums und des Mittelalters, zu denen man damals überwiegend wirklich zu Fuß pilgerte, waren Jerusalem (weil dort verschiedene Stätten des Lebens, des Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi, des Gottessohnes, anzutreffen sind), Rom (Gräber der hl. Apostel Petrus und Paulus, Sitz des Papstes als des Bischofs von Rom und Zentrum der Christenheit) und Santiago de Compostella im Nordosten Spaniens (Reliquien des hl. Apostels Jakobus). Und auch heute würde jeder fromme Katholik wohl immer noch gern in Jerusalem an den heiligen Stätten unseres Erlösers beten oder mit Andacht die zahllosen römischen Kirchen und herrlichen Basiliken betreten!
In der neueren Zeit haben im katholischen Erdkreis vor allem einige Orte an entsprechender Bedeutung gewonnen, an denen die Muttergottes erschienen ist und zu bestimmten Menschen gesprochen hat. (Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier vermerkt, dass die katholische Kirche nur solche Erscheinung offiziell anerkennt, die sie lang, eingehend und sehr kritisch prüft [um jeglichen Zweifel und irgendeine Ungereimtheit auszuräumen] und dann eben als echt bestätigt!) Solche Marienwallfahrtsorte sind vor allem La Salette (1846) im Südosten, Lourdes (1858) im Süden Frankreichs und Fatima (1917) in Portugal.
Daneben gibt es noch eine ganze Reihe anderer Wallfahrtsorte, deren Bekanntheitsgrad um einiges niedriger ist und die aus diesem Grund meistens nur eine begrenzte lokale Bedeutung besitzen. Zu einer solcher Stätten ist wohl auch die Basilika in Weingarten zu zählen, unweit des Bodensees, die wir Ihnen, verehrte Leser, nun deswegen vorstellen möchten, weil sie eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit beherbergt - eine echte Blutreliquie Jesu Christi nämlich!
2) Die Geschichte dieser Reliquie beginnt naturgemäß am historischen Karfreitag. Unter den mehreren Schaulustigen, die der Kreuzigung Christi beiwohnten, befand sich auch der römische Soldat Longinus. Historische Quellen lassen vermuten, dass er zur Kreuzigung abgeordnet wurde, da er als Soldat Teil der römischen Exekutive war. Jesus blutete ja am Kreuz bekanntlich aus vielen Wunden. Es wird überliefert, dass Longinus Blut aus einer Seitenwunde Christi sammelte, welches auf die Erde fiel. Denn bei der Durchbohrung der Seite Christi mit einer Lanze floss wohl deswegen besonders viel Blut heraus, weil dadurch das Herz bzw. der ganze blutreiche Herzbereich getroffen wurde.
Warum hebt Longinus einen vom Blut Christi durchtränkten Erdklumpen auf und bewahrt ihn dann auch noch auf? Im Evangelium heißt es: „Als der Hauptmann und seine Leute, die bei Jesus Wache hielten, das Erdbeben und die anderen Ereignisse wahrnahmen, gerieten sie in große Furcht und sagten: ‚Dieser war wirklich der Sohn Gottes‘“ (Mt 27,54). Offensichtlich gehört Longinus ebenfalls zu diesen Römern, die sich (im Unterschied zu einer Reihe anderer Anwesenden!) von den erlebten Ereignissen so beeindrucken lassen, dass sie zunächst einmal wenigstens ziemlich nachdenklich werden. Und solche Menschen widerstreiten dann auch weniger der Gnade einer etwaigen göttlichen Erleuchtung, zum Beispiel auch eine Reliquie aufzuheben und aufzubewahren!
Jedenfalls bekennt sich Longinus später ausdrücklich zum Christentum. Er erleidet deswegen Verfolgung, wegen welcher er sich nach Kappadokien begibt. Kappadokien ist eine antike Landschaft im östlichen Kleinasien (heute Türkei).
Die norditalienische Stadt Mantua nimmt sehr früh das Christentum an, auch wenn sie nicht vor dem 7./8. Jahrhundert Bischofssitz wird. Offensichtlich hat Mantua im 6. Jahrhundert dem Byzantinischen Reich von Konstantinopel irgendein nicht unbedeutendes Geschenk gemacht. Und wohl als eine Art Gegengeschenk erhält dann Mantua im Jahre 553 von Konstantinopel die Gebeine des heiligen Longinus und jene Reliquie des kostbaren Blutes Christi!
580 wird dann Mantua ein Jahr lang von den Langobarden belagert. Die Reliquien werden an einem geheimen Ort verborgen.
Nach einem anderen Bericht fällt ein Tropfen des kostbaren Blutes Jesu bei der Durchbohrung Seiner Seite sogar auf das Gesicht des Longinus, der dann sofort vom Unglauben, der geistigen Blindheit, geheilt wird. (Hier liegt der Ursprung der heilenden Wunderwirkung des Blutes Christi.) Nach diesem Bericht wird es umso verständlicher, warum Longinus einen Erdklumpen mit dem Blut des Erlösers aufhebt und in einem bleiernen Kästchen aufbewahrt!
Dieser zweiten Version zufolge lässt sich Longinus von den Aposteln taufen und schließt sich ihnen an. Aufgrund der Christenverfolgung verlässt Longinus Jerusalem und begibt sich nach Italien. Er nimmt die Blutreliquie mit und kommt nach Mantua. Dort predigt er den Glauben und bekehrt viele Menschen zu Christus. Nachdem nun auch in Mantua Christenverfolgung ausbricht, versteckt er die Reliquie in einem Bleikästchen und erleidet daraufhin den Martyrertod.
In jedem Fall befindet sich die Blutreliquie Christi schon lang vor dem Mittelalter in Mantua. In der Mitte des 11. Jahrhunderts wird dann einem blinden Mann in Mantua der Ort offenbart, an welchem sich das Kästchen mit der Reliquie befindet. Er meldet dies an höchster Stelle. Die Blutreliquie und die Gebeine des hl. Longinus werden am 12. März 1048 aufgefunden. Bei dieser Auffindung erhält der blinde Adilbero sein Augenlicht zurück.
Von allen diesen Ereignissen erfahren neben dem Herzog von Mantua auch der Kaiser Heinrich III. (1039-1056) in Regensburg und der Papst Leo IX. (1049-1054) in Rom. Beide kommen nach Mantua und begehren die Blutreliquie. Diese wird daraufhin in drei Teile aufgeteilt, wobei ein Teil in Mantua bleibt (in der neuerbauten Andreaskirche), ein zweiter Teil mit dem Papst nach Rom kommt und der Kaiser den dritten Teil bekommt.
Im Jahre 1056 stirbt der Kaiser. Graf Balduin V. von Flandern (1035-1067) erhält diesen Reliquienteil als Zeichen der Versöhnung. Dieser vererbt ihn dann seiner Tochter Judith (1032-1094). Gräfin Judith war in erster Ehe (1051-1066) mit dem Grafen Tostig von Northumberland und in zweiter Ehe (1071-1094) mit Welf IV. von Altdorf, Herzog von Bayern verheiratet.
1090 bzw. 1094 übergibt Judith ihren Teil der Blutreliquie dem Kloster Weingarten, der Lieblingsstiftung und Grablege der Welfen. Angeblich fand diese Übergabe an Abt Walicho (1088-1108) am Freitag nach Christi Himmelfahrt statt, weswegen dieser Tag in Weingarten besonders begangen wird.
3) Heute befindet sich die Reliquie des kostbaren Blutes Jesu in der Basilika Weingarten in einem goldenen Reliquienschrein. Dieser ist so vorne in den „Novus Ordo“-Altar eingebaut, dass die Reliquie für alle Kirchenbesucher sichtbar ist. Man kann somit praktisch immer eine Wallfahrt nach Weingarten machen, diese wertvolle Reliquie der Christenheit verehren und vor ihr beten! Mögen wir dann bei dieser Gelegenheit ebenfalls die tiefen Worte des hl. Apostels Petrus beherzigen: „Ihr wisst ja, dass ihr von eurem verkehrten, von den Vätern ererbten Wandel nicht mit vergänglichen Werten, mit Gold und Silber, losgekauft seid, sondern durch das kostbare Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“ (1 Petr 1,18f.)
Auf den Postkarten von der Basilika wird das Jahr 1931 als das Datum der gegenwärtigen Platzierung der Blutreliquie in der Basilika angegeben. Da es 1931 in Weingarten ganz sicher keinen Tisch, den so genannten „Volksaltar“, gab, ist daher zu vermuten, dass dieser früher, nämlich vor der postkonziliaren liturgischen „Reform“, den Hochaltar der Basilika bildete.
4) Blutritt. Wie vorhin erwähnt, ist der Freitag nach Christi Himmelfahrt jedes Jahr ein besonderer Festtag für die Basilika Weingarten, die größte Barock-Basilika Deutschlands. Denn da findet der so genannte Blutritt statt. Bereits am Vorabend, an Christi Himmelfahrt, finden sich zahlreiche Pilger aus der ganzen Gegend in Weingarten ein und nehmen nach einigen anderen Feierlichkeiten (so auch Segenspendung für die Kranken) auch an einer Lichterprozession von der Basilika St. Martin zum Kreuzberg (seit 1890) teil.
Am Blutfreitag selbst beginnt dann der eigentliche Bluttritt (bereits um 7 Uhr). Dabei nimmt ein Benediktinerpater des Basilikaklosters, hoch zu Ross (!), die Blutreliquie im Hof des Klosters in Empfang. Somit ist er der eigentliche Blutreiter. Daraufhin reitet er mäßigen Schrittes durch die geschmückten Straßen der Stadt und die umliegenden Felder und spendet mit der kostbaren Reliquie des Blutes Christi in der Hand den Segen für Haus, Hof und Felder.
Begleitet wird er von bis zu 3 000 Reitern in Frack und Zylinder, deren Pferden aus diesem besonderen Festanlass prächtige Geschirre angelegt werden. Die Reiter vom Heiligen Blut steuern vier Altäre an, wovon einer außerhalb der Gemarkung Weingartens in der Gemeinde Baienfurt liegt. Je nach Wetter und anderen Gegebenheiten kann diese eindrucksvolle Prozession bis zu vier Stunden dauern.
Dieser Blutritt wurde 1529 erstmals schriftlich erwähnt und bereits damals als Brauch von alt her bezeichnet! Die Teilnahme an der Prozession als Reiter ist traditionell nur Männern vorbehalten.
5) Das liturgische Fest des Kostbaren Blutes unseres Herrn Jesus Christus begeht die katholische Kirche jedes Jahr am 1. Juli. Es wurde von Papst Pius IX. im Jahre 1849 angeordnet, nachdem er nach seiner Flucht nach Caeta glücklich nach Rom zurückgekehrt war. Wir feiern da den unerschöpflichen Wert des kostbaren Blutes Jesu, durch welches wir erlöst worden sind. (Wie bezeichnend, dass die Modernisten dieses Fest aus ihrem Kalender entfernt haben!)
Im Introitus des Messformulars heißt es: „Herr, Du hast uns mit Deinem Blut erkauft aus allen Stämmen, Sprachen, Völkern und Nationen, und hast uns zum Königreich gemacht für unseren Gott“ (Offb 5, 9f.). “Des Herrn Barmherzigkeit will ich besingen ewiglich, will von Geschlecht zu Geschlecht mit meinem Mund Deine Treue künden“ (Ps 88,2)! In der Oratio betet die Kirche: “Allmächtiger ewiger Gott, Du hast Deinen eingeborenen Sohn zum Erlöser der Welt eingesetzt und wolltest durch Sein Blut Dich versöhnen lassen; so lass uns denn, wir bitten Dich, den Lösepreis unseres Heils (in festlicher Feier) verehren und durch seine Kraft vor den Übeln dieses Lebens auf Erden beschirmt werden, so dass wir uns im Himmel ewig seiner Frucht erfreuen dürfen. Durch Ihn, unseren Herrn Jesus Christus, der...“.
Und in der Secreta bringt die Kirche den außergewöhnlichen heilsgeschichtlichen Stellenwert des hl. Messopfers und dessen geistige Verknüpfung mit dem Blut Christi zur Sprache: „Wir bitten Dich: lass uns durch diese göttlichen Geheimnisse zu Jesus, dem Mittler des Neuen Bundes, hintreten und auf Deinem Altar, o Herr der Heerscharen, die Besprengung mit dem Blut erneuern, das besser redet als das Blut Abels. Durch Ihn, unseren Herrn Jesus Christus, der...“! So treten auch wir immer bei der Feier der hl. Messe mit Andacht und Gottesfurcht zu Jesus, dem göttlichen Hohenpriester, hin und lassen uns mittels des eigenen geistigen Mitopferns mit Ihm im sakramental gegenwärtiggesetzten Blut Christi innerlich reinigen! Und vergessen wir dabei auch nicht, diesen kostbaren „Lösepreis unseres Heils“ mit der vollen Inbrunst unseres Herzens anzubeten und das Knie vor ihm bzw. Ihm zu beugen!

P. Eugen Rissling


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