Unterlassungssünden

■ Wenn wir (hoffentlich regelmäßig) Gewissenserforschung betreiben und uns dann auch auf die Beichte vorbereiten sollten, stellen wir uns ja zuallererst solche Fragen: „Wo habe ich mich versündigt? Was habe ich gegen das Gebot Gottes getan? In welchem Umfang habe ich das sittliche Gebot Gottes übertreten?“ So gelangen wir dann eben zur Erkenntnis unserer Sünden, die ja immer ein bewusst-willentliches Verstoßen gegen den heiligen Willen Gottes sind, und stellen fest, wo und wie stark wir etwa die Unwahrheit gesagt, anderen Unrecht getan oder uns maßlos aufgeregt haben. Jeder weiß ja selbst, wie er diese Liste entsprechend fortzusetzen hat.
Weniger beachten wir dabei eine andere Gruppe von Sünden, auf welche wir vielleicht nicht so sehr achten, die aber ebenfalls eindeutige Sünden sind. Bei dieser Kategorie von Sünden geht es nämlich nicht um das, was wir falsch gemacht haben, sondern um das, was wir trotz guter Gelegenheit ausgelassen haben zu tun – um die sogenannten Unterlassungssünden!
Auch wenn wir in solchen Fällen nicht direkt etwas falsch gemacht haben, haben wir aber die sich uns bietende gute Chance, etwas Gutes und Richtiges zu tun, nicht genutzt. Zwar können wir sicher nicht die ganze Welt retten, das ist klar. Wir sollen auch nicht erschrecken oder meinen, man müsste von morgens früh bis abends spät nur darauf fokussiert sein zu schauen, wem man etwas Gutes tun könnte.
Hier geht es vordergründig um solche konkrete Situationen im Leben, in welchen es uns bewusst wird, dass die Umstände bzw. die Vorsehung Gottes es von uns verlangen, etwa einem Menschen in einer gewissen Not mit Wort oder Tat beizustehen und ihm zu helfen.
Das bedeutet nicht, dass man jeden Tag extra ins Stadtzentrum gehen und jedem Bettler etwa 10 Euro in die Hand drücken müsste. Man fange aber damit an, einem wirklich Hungrigen, der uns konkret auf unseren Lebenswegen begegnen sollte, etwa ein Brötchen zu kaufen, und einem wirklich Frierenden einen überflüssigen Pullover zu schenken. Es geht also um Hilfeleistungen in konkreten Gelegenheiten, die sich für uns ergeben.
Im Matthäus-Evangelium spricht Jesus vom Weltgericht (Mt 25,31-46). Dabei wird da zwischen „Schafen“ und „Böcken“ unterschieden. Zu der ersten Gruppe, die zu Seiner Rechten stehen wird, sagt der „Menschensohn“: “Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmt in Besitz das Reich, das seit Anbeginn der Welt für euch bereitet ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben, Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt, nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“
Dann werden diese Gerechten Ihn fragen, wann sei denn das alles geschehen, dass sie Ihm zu essen und zu trinken gegeben und andere Hilfeleistungen erbracht hätten. „Der König wird ihnen antworten: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Hier sehen wir, dass Jesus von uns keine großen Heldentaten verlangt, dass wir etwa unbedingt Berge versetzen und andere aufsehenerregende Wunder wirken sollten. Es reicht Ihm schon einmal, dass wir sowohl das Böse meiden als auch das Gute tun, wo sich uns eine konkrete Möglichkeit dafür bieten sollte. Und allein schon, wer auf dieser Ebene Gutes tut, wie er kann, wird nach dem Wort des Herrn „in das ewige Leben“ eingehen können!
Die sogenannte Kehrseite der berühmten Medaille besteht in den Worten Jesu an die, die dann zu Seiner Linken stehen werden: „Hinweg von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist! Denn Ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Durstig, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich nicht beherbergt, nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet, krank und gefangen, und ihr habt mich nicht besucht.“
Ebenso wird dann diese Gruppe verwundert fragen, wann sie denn Ihn in Not angetroffen und Ihm dann eben nicht geholfen hätten. „Dann wird Er ihnen antworten: Wahrlich, Ich sage euch: Was ihr einem von diesen Geringsten da nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Diese werden hingehen in ewige Pein.“
Das Erschreckende daran ist, dass der Herr diese Menschen in die Hölle kommen sieht! Sie werden laut Aussage des Evangeliums nicht dafür bestraft, dass sie etwa gemordet, Rufmord begangen oder auch die Ehe gebrochen hätten. Nein, ihr Vergehen besteht „nur“ darin, dass sie das Gute nicht taten, als sie es nämlich hätten tun können und somit auch sollen. Vielleicht achteten sie in einer etwaigen negativen Glaubenshaltung nur darauf, keine Sünde zu begehen (was natürlich ebenfalls essentiell ist), und ignorierten dabei die positive Glaubenshaltung, die den Glaube aber im Erkennen der Liebe Gottes und dem eigenen praktischen Üben dieser Liebe wirksam werden lässt!
Natürlich hat jeder von uns jeweils verschiedenes Naturell und unterschiedliche Erziehung genossen. Somit ist der eine etwas aufmerksamer als ein anderer, wenn es darauf ankommt, die Not eines anderen Menschen zu erblicken bzw. die Möglichkeit der eigenen Hilfe. Das Gewissen von uns Menschen ist halt unterschiedlich geschärft.
Aber dennoch erblickt jeder solche Gelegenheiten in seinem Leben, wo ihm der Gedanke kommt, hier und jetzt könntest du einem anderen zur Seite springen, eine bestimmte Hilfeleistung anbieten, ihn im Schmerz trösten oder sich ganz einfach wenigstens nach dem Wohlbefinden des anderen erkundigen. Es wird einem jedenfalls ausdrücklich bewusst, dass man auf die eine oder andere Weise helfen könnte und sollte, und tut es trotzdem nicht – ob aus Scham, schwachem Glauben oder fehlender menschlicher Reife! Oder man missachtet auch die eigene bisher gemachte negative Erfahrung oder auch entsprechende wohlgemeinte Hinweise anderer Menschen, mehr an entsprechendem Interesse für die anderen aufzubringen – man schiebt solche Inspirationen vielleicht sogar verächtlich zur Seite.
Es soll uns also allen zur Warnung sein, dass man sich auch wegen solcher scheinbaren Kleinigkeiten die Hölle verdienen kann. Christus spricht hier jedenfalls eine klare Sprache.
Eine kleine persönliche Geschichte zu diesem Thema. Vor etlichen Wochen habe ich einmal das Auto in der Stadt geparkt und bin aus ihm ausgestiegen. Da kommt an mir eine ältere Dame mit einem kleinen Hund vorbei. Ohne mir dabei viel zu denken, habe ich ihr nur leicht scherzhaft gesagt: „Naja, ein kleiner Hund ist auch ein Hund.“
Zu meiner großen Überraschung zeigte sich diese Frau aber hoch erfreut darüber, dass überhaupt jemand einen freundlichen Kommentar zu ihrem Liebling abgegeben hat. Sie fing an, von sich aus über ihren Hund zu erzählen, und freute sich über die ihr erwiesene Aufmerksamkeit.
Ich hatte nicht im Geringsten daran gedacht, dass ich hier etwas Großartiges getan hätte. Man ist ja nur ein bisschen freundlich. Aber an solchen Fällen sieht man, dass manchmal nur ein Kompliment, ein Gruß oder ein freundliches Wort den Menschen viel Gutes tun kann, ohne dass uns dies vielleicht bewusst werden müsste. Und solche Erfahrungen hat sicher jeder schon gemacht.
■ Weit verbreitet und allgemein bekannt sind ja in der heutigen Zeit Fälle, in welchen speziell den eigenen Eltern gegenüber nicht genug Achtung und Respekt erwiesen wird. Manchmal kommt man in Seniorenheime und erfährt, dass die Familie des einen oder anderen alten Bewohners dort zwar nicht so weit weg lebt, aber dennoch höchst selten zu Besuch kommt. Wieviel Schmerz und Enttäuschung bedeutet dies ja für die alten Eltern, die sich früher so sehr aufgeopfert haben für ihre Kinder und Enkelkinder. Die betreffende Vernachlässigung der eigenen Kinderpflichten ist wohl eindeutig eine schwerwiegende Unterlassungssünde.
Es ist doch ein weit verbreitetes Übel in unserer Gesellschaft, dass man zwar sehr wohl Kontakt zu den eigenen Eltern und Großeltern unterhält und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, solange man sie irgendwie braucht. Kaum braucht man sie nicht mehr, vergisst man sie weitestgehend. Höchstens an Weihnachten, Ostern und dem Geburtstag gibt es eine Gratulation und man redet kurz mit ihnen. Sonst herrscht fast komplett Funkstille.
Niemand ist perfekt, niemand ist vollkommen, und jeder hat genug Gründe, bei sich selbst anzufangen und sich selbst anzuklagen, gerade auch im Bereich der Unterlassungssünden. Und wir können auch bei einander immer genügend Anlass finden, etwas entsprechend zu bemängeln. Aber die gerade genannten Missstände sind so sehr Ärgernis erregend, weil gegen elementare Grundsätze verstoßend, dass man manchmal den Kopf schütteln und sogar fragen muss: „Was nützt euch euer Glaube, wenn ihr euch so zurückweisend euren Mitmenschen gegenüber verhaltet?“
Der hl. Apostel Jakobus schreibt: „Geliebte! Seid Befolger des Wortes, und nicht bloß Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst. … Wenn jemand meint, er sei fromm, aber seine Zunge nicht im Zaun hält und sich selbst betrügt: dessen Frömmigkeit ist eitel. Reine und unbefleckte Frömmigkeit vor Gott dem Vater ist dies: Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich unbefleckt bewahren von dieser Welt.“ (Jak 1,22.26f.) Oft ist also Rücksichtnahme auf einen anderen und Interesse an Ihm mehr als sogenannte „große Dinge“!
Ein alter Lehrer hat einmal aus seinem Leben berichtet. Zur betreffenden Zeit und in der betreffenden Gegend gab es noch Dorfschulen mit einem Lehrer für alle Grundfächer. Unter seinen Schülern war auch ein junger Bursche, dem er dann auch Nachhilfeunterricht gegeben hatte. Dieser Junge wollte ebenso Lehrer werden. Der alte Lehrer hat ihn dann später auch während dessen Studiums unterstützt. Der junge Mann wurde dann tatsächlich Lehrer.
Und wie der Zufall es will, ist dieser von den Behörden seiner ehemaligen Schule in seinem Heimatdorf als Lehrer zugewiesen worden. Der alte Lehrer hat ihm dann die Schule übergeben und ist selbst in eine andere Schule gegangen.
Das erste Mal nachdenklich und besorgt wirkte dann der alte Lehrer bei der Erwähnung des Umstandes, dass der junge Kollege dem älteren nicht zu bestimmten Dienstjubiläen gratuliert hatte, obwohl der ältere dem jüngeren immer den entsprechenden Respekt erwiesen hatte.
Dann haben die Eltern der Schüler den jüngeren Lehrer einmal darauf angesprochen, ob denn nicht der alte Lehrer einmal für einen Tag eingeladen werden sollte in seine alte Schule und er dort den Unterricht abhalte. Der junge Lehrer antwortete darauf kurz und trocken nur: „Nein, das ist meine Schule.“
Einem vernünftigen Menschen muss man ja nichts weiter erklären, er versteht selbst, was hier vorgefallen ist und wessen Geistes Kind dieser junge Lehrer offensichtlich war. Wenn man aber solche Leute wie diesen jüngeren Lehrer darauf anspricht, bekommt man ja zur Antwort meistens die verwunderte Frage zu hören: „Was ist los? Ich habe doch nichts getan!“ Und genau das ist das Problem: Man hat nichts getan, wo man etwas hätte tun müssen!
Der ältere Lehrer hat dann erzählt, dass eigentlich nicht er da ein echtes Problem habe. Als er die betreffende Antwort des jungen Kollegen von den Eltern erfahren habe, sei das für ihn menschlich zwar wie ein Stich ins Herz gewesen. Aber er sei halt älter und lebenserfahrener und könne das verkraften. Strenggenommen komme er auch ohne diesen Respekt seitens des jüngeren Kollegen zurecht. Aber der junge Lehrer müsse lernen, entsprechend Rücksicht auf andere zu nehmen und speziell älteren Mitmenschen mit höherer Achtung zu begegnen. Wie kann er ein guter Lehrer sein und den Kindern neben dem Fachwissen v.a. auch ein christliches Koordinatensystem der Werte fürs Leben beibringen, wenn er auf dieser elementaren Ebene etwas Grundsätzliches übersieht und Menschen so schmerzhaft-ignorant „auf die Füße tritt“?
Ebenso wertvoll, was dieser ältere Lehrer dann noch hinzugefügt hatte. Aufgrund der eigenen Erfahrung sagte er dann nämlich: „Ein Mensch, der einen guten Glauben hat und ein gesundes Selbstbewusstsein besitzt, weiß, woher er kommt und worauf er baut. Wer ein solides Gemüt hat und Gutes tut, der kann auf vieles an menschlichen Aufmerksamkeiten verzichten, und braucht da auch keine Art von Ersatzreligion. Ein Mensch aber, der viel zu sehr auf sich selbst und die eigene Ehre ausgerichtet ist und somit große Mängel an echter Demut aufweist, strebt auf eine geradezu kindische Weise nach Ruhm und Anerkennung und betont bei allem unterschwellig nur: Ich auch wichtig, ich auch klug.“
■ Ja, wir sind alle schwach und versündigen uns durch eine ganze Reihe von Unterlassungssünden. Wohl kaum hat da jemand eine komplett reine Weste. Dennoch ist es sehr wichtig und es macht einen großen Unterschied aus, ob wir uns der betreffenden Problematik überhaupt bewusst werden und dann eben an uns entsprechend arbeiten, oder ob wir auf diesem Auge blind bleiben und ignorant weiter machen. Daher ist es notwendig und extrem heilsam, sich bei der Gewissenserforschung immer auch dem Bereich der Unterlassungssünden zuzuwenden!
Aber auch wenn wir bisweilen (hoffentlich nicht zu oft und zu stark) durch das Leben an die Fehler anderer Menschen erinnert werden (gerade auch an ihre Unterlassungssünden), begehen wir bitte auch nicht selbst gleichzeitig insofern eine Unterlassungssünde, dass wir etwa nicht für sie beten! Wenn uns auffällt, dass ein Mitmensch eine Sünde oder sündhafte Unachtsamkeit begeht und wir uns darüber emotional aufregen, dann wird uns der Herrgott eines Tages umso mehr danach fragen, ob wir für diesen Menschen etwa auch in ehrlicher Absicht gebetet haben, um ihm auf diese Weise zu helfen. Oder waren wir dabei in selbstsüchtiger Weise nur glücklich, dass wir an ihm etwas gefunden haben, was wir gegen ihn vorbringen könnten, um selbst besser dazustehen?
Bitten wir den Hl. Geist um die Gnade, dass wir aufmerksamer werden, um andere mehr zu beachten und dann zu achten, um ihre Not zu erblicken und ihnen im Maß des Möglichen zu Hilfe zu eilen. Nicht dass wir da etwa auf eine gespielte oder schmeichelnde Art und Weise vorgehen würden, sondern grundehrlich und von Herzen.
Dann wird in uns auch und v.a. die wahre Frömmigkeit zunehmen, die uns befähigt, uns sowohl von allen Unzulänglichkeiten und dem falschen Streben der Welt fernzuhalten als auch anderen Menschen, wo und wie es sich ergibt, um Christi willen Gutes zu tun. Dann sind wir „Befolger des Wortes, und nicht bloß Hörer“ und betrügen uns umso weniger selbst!

P. Eugen Rissling

 

Zurück Hoch Startseite