Das Lebenskreuz


In ihrem ersten Buch, dem Buch Genesis, berichtet uns die Bibel von der Erschaffung der gesamten Welt. Dabei fällt auf, daß immer wieder - insgesamt fünfmal - festgestellt wird, daß alles, was Gott schuf, gut war. Nach der Erschaffung des Menschen als Krönung der Schöpfung wird noch einmal gesagt: „Als Gott alles sah, was Er gemacht hatte, fand Er es sehr gut“ (Gen 1,31).


Die gesamte Kreatur, allem voran der Mensch, befand sich in voller Harmonie, und zwar in jeglicher Hinsicht. So hatte der erste Mensch keine Krankheiten und kein Leid zu erdulden, er war dem (leiblichen) Tod nicht unterlegen. Und vor allem befand sich der Mensch in vollem Frieden mit Gott! Er hatte Anteil am göttlichen Leben und erfreute sich der beseligenden Gegenwart des Herrn, denn es gab (noch) keine Sünde und demnach auch nicht die peinigende Qual der Gottesferne als deren eigentliche Strafe.

Der Mensch sollte aber geprüft werden, ob er sich dieser erhabenen Berufung würdig erweise. Und diese Prüfung bestand er nicht, indem er nicht bereit war, den heiligen Willen Gottes über alles zu setzen. Letztendlich hat der Mensch in Freiheit Gott nicht als Gott anerkannt und ist als gerechte Strafe dafür aus dem Paradies vertrieben worden.

Das schwere Los, das er nun aus Gerechtigkeit verdient hatte, ist angesprochen in den Worten, die Gott bei der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies gesprochen hatte: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm (dem Erdboden) nähren alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln wird er dir tragen... Im Schweiße deines Angesichtes wirst du dein Brot verzehren“ (Gen 3,17 ff.). „Mühsal“ erwartet den Menschen, und wenn er sich sogar „im Schweiße seines Angesichtes“ bemüht, wird er nur „Dornen und Disteln“ ernten, also wesentlich weniger als ursprünglich und eigentlich erwartet.
Ist dies nicht unsere tägliche Erfahrung? Oft entspricht der Ertrag - menschlich gesprochen - nicht der erbrachten Leistung. Was manchmal in Jahren schwerster Arbeit von Menschen geschaffen wurde, wird innerhalb weniger Augenblicke zerstört. Ein kurzes aber heftiges Unwetter kann die ganze Ernte vernichten. Ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe raubt dem Menschen sein Zuhause und seinen Lebensraum.

Noch mehr und vor allem gilt das im geistigen Bereich! Manchmal setzt man sich für andere Menschen oder für irgendeine Sache noch so intensiv ein und muß statt des erhofften Erfolges eine bittere Enttäuschung hinnehmen. Ja hätten wir wenigstens den Frieden mit Gott! Aber jeder von uns weiß, wie gebrechlich wir in sittlicher Hinsicht sind.

Enttäuschung und Leid sind fast ständig unsere Begleiter. Das Leben ist schon ein Kreuzweg, es fällt uns nicht leicht. Die Last ist manchmal so schwer, daß sie unsere Kräfte zu übersteigen droht. Wenn ein ernsthafter Christ z. B. in der Lebensbeschreibung der Heiligen von deren enormen Schwierigkeiten und Kämpfen liest, kommt ihm im Anflug der Begeisterung manchmal der Gedanke und der Wunsch, auch etwas für Gott und die gerechte Sache erdulden und ertragen zu dürfen. Wenn ihn aber das schwere Kreuz tatsächlich erreicht, ist er im ersten Moment immer ernüchtert, weil es in der Regel nicht so leicht zu tragen ist, wie man es sich im Augenblick der Begeisterung ausmalte.

Das zusätzlich belastende Moment ist, daß wir oft gleichzeitig mehrere Probleme zu bewältigen haben und uns kaum Verschnaufpausen gegönnt werden. Kaum ist eine Schwierigkeit überwunden, taucht schon eine andere am Horizont auf. Und so stellt sich der Mensch die Frage, ob das Leben so richtig eingerichtet ist, daß wir es so schwer haben.

Häufig tritt in diesem Stadium eine Auflehnung gegen diese Art von Leben, auf mit der sich daraufhin anschließenden Flucht vor den Realitäten. Man möchte nichts mehr hören und wissen von den Problemen und versucht nun, ihnen zu entfliehen. Der eine stürzt sich ins grenzenlose Vergnügen, der andere bemüht sich, seinen Schwierigkeiten durch Alkohol- oder irgendeinen anderen Konsumgenuß zu entkommen, der dritte wirft das Handtuch im moralischen Sinne. Eine gesunde Erholung und Ablenkung braucht wegen seiner begrenzten physischen und seelischen Kräfte natürlich jeder Mensch. Die Flucht dagegen trägt eher zur Vergrößerung und Verschlimmerung der Probleme bei.


Ja, warum haben wir es eigentlich so schwer im Leben? Warum könnte es nicht leichter und somit schöner sein? Als Antwort auf diese Frage müßte eine Gegenfrage gestellt werden: warum sind wir Menschen aus dem Paradies vertrieben worden? Weil wir uns letztendlich - indem wir Seinen Willen nicht gelten ließen - doch gegen Gott aufgelehnt und Götzendienst betrieben haben! Man darf nicht meinen, Adam und Eva haben gesündigt, wir aber würden vollkommen unschuldig für eine fremde Sünde bestraft werden. Der Blick auf unsere täglichen Verfehlungen, die wir klaren Verstandes begehen, soll und wird uns solcher Überlegungen fernhalten. Der hl. Paulus sagt, daß wir alle in Adam gesündigt haben (vgl. Röm 5,12). Das bedeutet, wir alle haben unsere jetzige elende Situation mitverschuldet. Kann außerdem jemand im Ernst behaupten, er hätte an der Stelle von unseren Stammeltern (die sich doch der Schau Gottes erfreuten) nicht gesündigt?

Im übrigen ist die gesamte Menschheitsfamilie eine große Solidaritätsgemeinschaft, in der jeder für jeden - im tiefen geistigen Sinn - irgendwie mitverantwortlich ist. So müssen wir gemeinsam auch an unserem Kreuz tragen. Natürlich trifft es den einen härter als den anderen. Oft leiden die - menschlich gesprochen - unschuldigen Personen wie Kinder, Frauen oder ältere Menschen in furchtbarer Weise an Zwietracht, Haß und Krieg, die eigentlichen Verursacher des Elends müssen dagegen kaum persönliche Entbehrungen auf sich nehmen. Trotzdem ist es (wenigstens teilweise) immer unser aller Schuld!

Angesichts der bedrückenden Tatsache, daß wir außerstande sind, den negativen Seiten des menschlichen Daseins zu entrinnen, könnte man bisweilen verzweifeln. Die erschreckend hohe Zahl von Süchtigen und Selbstmordfällen bestätigt ja die von uns angestellten Überlegungen. Oft genug wissen auch wir uns in mancher brenzlichen Situation nicht zu helfen. So gesehen, bereitet das Leben dem Menschen keine Freude, sondern verliert für ihn jeglichen Sinn.

Nur gibt es in der Weltgeschichte ein Ereignis, das auch unserem noch so schweren Lebenskreuz eine tiefere Bedeutung verleihen kann. Wir könnten unter unserer Last verzweifelnd zusammenbrechen, wenn nicht Einer die ganze Last getragen hätte! Wenn es uns im Leben noch so schlimm erwischt, stellt es trotzdem nur einen winzigen Bruchteil der Last jenes Kreuzes dar, das Gott sich selbst auf die Schultern geladen hatte. Es empfiehlt sich, gelegentlich eine Betrachtung darüber anzustellen. 
 


       Bild des wundertätigen Kreuzes von Limpias
Alles Elend aller lebenden, bereits verstorbenen und in der Zukunft noch zu erwartenden Menschen lastete gebündelt und in einer kurzen Zeitspanne konzentriert auf dem Gottmenschen, der dieses Kreuz - was äußerst wichtig ist - darüberhinaus freiwillig übernommen hatte! Und dieses sühnende Leiden und Sterben Jesu Christi gibt auch unserem Leiden einen Sinn.



Seit dem erlösenden Opfertod Christi ist auch unser Lebenskreuz nicht mehr sinnlos. Wenn ein Christ in der Einstellung Jesu Christi, d. h. in Seiner Liebe, seine Schwierigkeiten zu bewältigen versucht und die Last geduldig trägt, erhält auch sein Kreuz einen sühnenden Charakter. Zwar hat der Herr für die Menschen bereits alles (prinzipiell) zur Genüge gesühnt, nur ist auch uns ein Teil des Opferns überlassen worden nach dem Wort des Völkerapostels, daß wir erfüllen müssen, “was am Leiden Christi noch aussteht” (vgl. Kol 1, 24). Durch unser Mitopfern soll mitgeholfen werden, die überreichen Gnaden der Erlösung dem einzelnen zuzuwenden. Wenn ein Jünger Jesu Christi bewußt nur mit Recht auf Unrecht, mit verzeihender Liebe auf Haß, mit Ehrlichkeit auf Lüge antwortet, wenn er der grenzenlosen Ausschweifung und dem maßlosen Streben vieler unserer Zeitgenossen nach Vergnügen bewußt Disziplin und Einschränkung entgegenstellt, wenn er manchen Nachteil um Christi willen hinnimmt und so das Kreuz seines Meisters mitzutragen hilft, wird durch sein christliches Verhalten nach dem göttlichen Gesetz des „Ausgleichs“ manche Bosheit der Menschen stellvertretend gesühnt und die dafür wohlverdiente Strafe abgewendet.


Auch die Kirche hat (in ihren Gliedern) im Laufe der Geschichte viel zu häufig auf reine Macht, äußere Prunksucht, leblosen Formalismus usw. gesetzt. Vielleicht ist es Zulassung Gottes, wenn sie heute in der Zeit des großen Glaubensabfalls - weltlich gesprochen - zur Bedeutungslosigkeit verurteilt ist, damit sich die Katholiken aufs Wesentliche, auf die christlichen Prinzipien besinnen (und die Fehlentwicklungen erkennen). Denn nur so ist auf bessere Zeiten zu hoffen!

Der Gottessohn triumphierte über die Sünde und den Teufel nicht erst bei der Auferstehung am Ostersonntag, sondern schon am Karfreitag, in der Zeit des größten Leidens! So trägt auch ein Christ durch das Tragen seines Lebenskreuzes den moralischen Sieg über das Unrecht und die Gottlosigkeit davon und ruft den göttlichen Segen auf die Menschheit herab. Und er selbst darf dadurch umso inniger mit seinem Herrn verbunden werden. Auch sein Lebenskreuz erhält trotz aller Schattenseiten, die es nach wie vor enthält, Licht und Farbe, denn durch das Kreuz Christi wird das geduldige und demütige Leiden und Opfern Seiner Kirche verklärt! „Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes! Er tröstet uns in all unserer Trübsal. So sind wir imstande, auch anderen in jeder Trübsal den Trost zu spenden, den wir von Gott empfangen. Denn wie die Leiden Christi sich reichlich über uns ergießen, so strömt durch Christus auch reichlich Trost auf uns“ (2 Kor 1,3-5).

 

P. Eugen Rissling

 

 

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