Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind...“

 

Vor einigen Wochen ist ein ganz besonderer Freund von mir im Alter von 73 Jahren in die Ewigkeit abberufen worden. Seine Besonderheit, sein Abweichen von den Menschen seiner Umgebung bestand darin, dass er mit dem Down Syndrom geboren wurde und somit seit seiner Kindheit geistig behindert war (Mongoloid). Und obwohl er die „Normalität“, so wie wir sie halt definieren, nicht besaß, war es immer angenehm, ihm zu begegnen und - solange er nicht bettlägerig war und vor allem noch etwas sprach - ein kurzes Gespräch mit ihm zu führen.
Denn er war so offenherzig, so ehrlich, so direkt, dass er die Sympathien aller gewann, die ihm begegneten (Familienangehörige, Pflegepersonal, Nachbarn, Freunde). Immer war ein Lächeln auf seinem Gesicht, wenn er jemand traf, und stets hieß es bei ihm an allen Tagen der Woche bei der Verabschiedung der Gäste: „Guten Sonntag!“ Wenn man ihn fragte, wie es ihm gehe, lautete die Antwort regelmäßig: „Ich bin zufrieden“.


Erheiternd für seine Umgebung kam hinzu, dass er in einigen für ihn geistig realisierbaren Situationen durch sein Verhalten den Eindruck erwecken wollte, sich so benehmen zu können, wie alle anderen Menschen. An der Bushaltestelle tat er so, als würde er den Fahrplan lesen (können), während der hl. Messe bemühte er sich, die Handbewegungen des Priesters nachzumimen und im Schott-Messbuch der Gläubigen zu blättern, als wäre das für ihn selbstverständlich, als würde er sich darin bestens auskennen. Aber dies alles hatte bei ihm dennoch nicht im geringsten etwas mit der etwaigen Unehrlichkeit oder Falschheit der Person zu tun, sondern war lediglich Ausdruck seiner grundsätzlich gutmütigen und heiteren Seele.


Bar jeglicher Verschlagenheit, Verlogenheit oder Listigkeit, sah man ihm an, wie es ihm ging, woran er war, ...und woran man mit ihm war. In ihm erkannte man gewissermaßen die ursprüngliche Unverdorbenheit der menschlichen Natur. Durch ihn erahnte man, wie ungefähr auch wir, die sogenannten „Normalen“, sein müssten, um Gott zu gefallen und Seiner Forderung nach der Erfüllung der Sittlichkeit zu entsprechen. Man konnte letztendlich nicht, diesen Menschen nicht zu mögen und nicht zu lieben!
Ähnliche Eigenschaften der Seele, analoge sittliche Beschaffenheit unserer Natur hat wohl auch unserem göttlichen Herrn Jesus Christus vorgeschwebt - so wie wir uns das halt vorstellen können -, als Er von Seinen Jüngern mit den folgenden berühmten Worten das Kind-Sein bzw. das Kind-Werden als Bedingung zur Erlangung der Gemeinschaft mit Ihm einforderte: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt es ihnen nicht; denn für solche ist das Reich Gottes. Wahrlich, Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen“ (Lk 18,16f.)!


In der heutigen Zeit ist in unserer westlichen Gesellschaft dagegen sehr vieles, ja beinahe alles auf „Ideale“ wie Leistung, Popularität, Reichtum, Macht ausgerichtet. Die einen meinen, auf Kariere setzten und es unbedingt zu irgendeinem bestimmten Posten oder einer hohen Stellung in Wirtschaft oder Politik bringen zu müssen, damit sie dann persönlich (!) Einfluss aufs Geschehen hätten und Macht über andere ausübten, und damit ihr Leben dadurch als besonders gelungen gelten könne. Die anderen wollen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden (und nicht stehenden) Mitteln und Kräften auf irgendeinem Weg in die Öffentlichkeit kommen bzw. sie lassen sich in einen Container einsperren (was dann scheinbar tiefsinnig „Big Brother“ heißt), um für jedermann bekannt, um populär, um ein Star zu werden. Und dies gilt dann bei ihnen als „cool“, davon versprechen sie sich besondere Lebensqualität.


Wieder andere versuchen es mit Wohlstand und Reichtum. Bei ihnen gilt das geliebte Geld als der Inbegriff allen Glücks und aller Seligkeit. Je mehr sie davon haben, je höher sie es auf der Liste der reichsten Personen eines Landes gebracht haben, umso mehr erliegen sie der Illusion, ein umso erfüllteres Leben zu führen (wobei sie nicht merken, dass sie schon längst ein Knecht des Mammons geworden sind).


Angesichts dieser „Ideale“ kann natürlich jener verstorbener Freund nicht vor der öffentlichen Meinung, vor dem sogenannten Tribunal der Glitzerwelt, der Welt der Reichen und Schönen, bestehen. Denn bei ihm konnte nicht im entferntesten eines der erwähnten Kriterien als in Erfüllung gegangen angenommen werden. Denn in diesem Sinne hat er es nicht im geringsten zu etwas gebracht, wie es halt oft bei den „normalen“ Menschen so heißt.
 

Dennoch hat er mit seinem Dasein eine wichtige Aufgabe in unserer Gesellschaft besessen, eine bedeutsame Funktion in unserer Mitte ausgeübt. Denn wenn man etwas nachdenkt, so stellt man bald fest, dass er als getaufter Christ, als jemand, der reingewaschen worden ist „im Blute des Lammes“ (vgl. Offb 7,14), in besonderer Weise für uns, die „Normalen“, die Liebe und Güte Gottes widerspiegelt hat! Wer in seine ehrlichen Augen schaute, wer die Einfachheit und Offenherzigkeit seiner Seele betrachtete, der konnte darin eben jene Eigenschaften Gottes erkennen, die uns eigentlich allen eigen sein sollten.


Dabei wurde von ihm diese Liebenswürdigkeit, diese geistige Schönheit unseres Schöpfers und Erlösers nicht etwa durch die Schlechtigkeit, Unaufrichtigkeit und Falschheit des verdorbenen menschlichen Willens irgendwie verdunkelt oder anderweitig in den Schatten gestellt, wie es sonst bei den Menschen so häufig und teilweise sogar so extrem ausgeprägt vorkommt. Da seine Seele keine sündhafte Trübung wegen der Schlechtigkeit des eigenen Willens besaß, konnte er auch den Blick seines Gegenübers gewissermaßen ungetrübt auf seinen göttlichen Erlöser weiterleiten.


Auch wenn er wegen seiner geistigen Behinderung sozusagen nicht die volle menschliche Willensfreiheit besaß und somit auch nicht im entsprechend vollen menschlichen Bewusstsein handeln konnte, so besteht seine Rolle im Plan Gottes für uns wohl dennoch darin, für uns allein schon durch seine Existenz eine Art Mahnung zu sein, uns nicht in dieser sündhaften Welt zu verlieren, und ein Aufruf, immer wieder den Blick nach oben zu richten und uns zu unserem eigenen Heil auf höhere, sinnvermittelnde Werte zu besinnen!
 

4) Aber was strahlen wir in unserem Leben wider, was geben wir auf unsere menschliche Umgebung gewissermaßen weiter? Von welchen Werten sind wir so tief überzeugt, dass sie sowohl unbedingt zu unserer geistigen Grundlage im Leben gehören als auch in unserem Handeln als maßgebend für uns, für unsere Person, in Erscheinung treten? Und wo verdunkeln wir vielleicht sogar Gottes Ideale, die wahren Ideale, und tun somit alles andere als einen guten Dienst an Seiner Sache?


Man soll sich natürlich nicht ständig mit anderen Menschen vergleichen und sich unentwegt die Frage stellen, in welchem Licht wir wohl bei ihnen stehen, und was sie über uns denken. Diese unzulängliche Mentalität widerspricht klar dem Evangelium Jesu Christi und fördert nur die von Ihm verpönte Menschenfurcht.
Dennoch ist es statthaft, sich gelegentlich gewissermaßen von der Seite her zu betrachten, um vor Gott und seinem Gewissen zu klären, welchem Zweck mein Leben letztendlich dient, wessen Geistes Kind ich eigentlich bin, und welchen Einfluss ich somit auf meine Mitmenschen ausübe. Denn nur dann, wenn unser Denken und Streben von allen falschen und verderblichen Absichten und Motiven gereinigt worden ist, wenn wir uns voll und ganz auf Ihn eingestellt haben, können wir auch tatsächlich Ihm wahrhaftig dienen. Sollen wir ja nach der Aufforderung Christi ausdrücklich „Licht der Welt“, „Licht“ für die Welt werden: „Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Auch zündet man kein Licht an und stellt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter. Dann leuchtet es für alle im Haus. So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,14-16).


Sind es also die Werte wie Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Anständigkeit, Bescheidenheit usw., mit welchen wir in Erscheinung treten und welche für uns vielleicht sogar ein wenig charakteristisch geworden sind? Oder kommen unter dem löchrigen Mäntelchen der äußeren Frömmigkeit nur die Unarten wie Egozentrik, Eigensucht, Respektlosigkeit, Verächtlichkeit, Desinteresse an der Wahrheit, Streitsucht o.ä. zum Vorschein? Lassen wir uns also vom „Licht“ Christi inspirieren und strahlen es zum Ruhm Gottes auf unsere Umgebung weiter? Oder tragen wir durch unser Denken, Sprechen und Handeln eher dazu bei, dass der Name Gottes unter den Heiden gespottet wird, da wir ja in einem gewissen Umfang ebenfalls für das Ansehen unser heiligen katholischen Religion in unseren Breitengraden verantwortlich sind?

P. Eugen Rissling

 

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