Vom „Widerstreben gegen die erkannte Wahrheit“


In der Litanei zum Heiligen Geist hat die katholische Kirche eine bemerkenswerte Anrufung formuliert: “Vom Widerstreben gegen die erkannte Wahrheit - erlöse uns, o Herr!” Gewöhnlich, wenn wir um die Erkenntnis einer der göttlich offenbarten Wahrheiten oder eines sonstigen wichtigen Sachverhaltes ringen, bitten wir den lieben Gott darum, etwas zu verstehen oder einzusehen. Denn diese Erkenntnisse sollen dann eben dazu beitragen, dass wir entweder den Willen Gottes besser verstehen, um unser Leben danach auszurichten, oder Seine Zulassungen akzeptieren, um die uns geschickten Lebenskreuze in wahrhaft christlicher Opfergesinnung zu tragen.

Mit dieser flehentlichen Bitte der Heilig-Geist-Litanei aber, welche wie alle Litaneien gewöhnlich im Knien verrichtet wird, werden wir ausdrücklich angeleitet, die bereits vollzogenen (!) Erkenntnisse ernst zu nehmen und im Leben mit aller Konsequenz dazu zu stehen. Denn es gehört leider zu den negativen Neigungen der gebrechlichen Natur des sittlich unzulänglichen Menschen, der Wahrheit gelegentlich aus dem Weg zu gehen bzw. sich ihr nicht voll und ganz stellen zu wollen!

So erleben wir es doch immer wieder - sowohl an unserem eigenen Fall als auch am Beispiel mancher unserer Mitmenschen -, dass der Mensch nicht immer und nicht unbedingt willens ist, entweder die bereits vollzogenen Erkenntnisse voll und ganz gelten zu lassen (vor allem für seinen eigenen Bereich) oder jenen wichtigen und zentralen Sachverhalten auf den Grund zu gehen, von welchen wir in unserem Intellekt eine Art Vorahnung gewinnen. Und besonders gilt dies für den Fall, dass wir merken, dass die ganze Wahrheit für uns sehr wohl “unangenehm” werden könnte oder dass wir daraus durchaus schmerzhafte Schlussfolgerungen werden ziehen müssen!

Dies sehen wir am Beispiel einer sehr folgenschweren geschichtlichen Entwicklung überdeutlich, welche sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts zugetragen und extrem negative Folgen gezeigt hat: die gesamte modernistische “Reform” innerhalb der offiziellen katholischen Kirche in der Zeit nach dem Tod von Papst Pius XII. Wenn man bedenkt, dass es in der ersten Zeit nach dem so genannten  2. Vatikanischen Konzil und den darauf folgenden “Reformen” (als sich nämlich deren erste und keinesfalls gute “Früchte” zeigten) noch eine ganze Reihe von Priestern und Gläubigen gab, die sich eben nicht mit dieser ganzen Entwicklung einverstanden erklärt und sich gelegentlich auch verbal dagegen ausgesprochen haben, so kann man sich fragen, wo sie denn dann im Laufe der Zeit alle geblieben sind!

Denn hätten zum Beispiel alle Priester, die damals angesichts der liturgischen und theologischen “Neuerungen” bzw. “Experimente”, die aus Rom kamen, unzufrieden oder sogar entsetzt den Kopf schüttelten, konsequent ihre Zuneigung zur überlieferten Liturgie bzw. zum unverfälschten katholisch-apostolischen Glauben praktiziert, indem sie zum Beispiel sowohl bei der überlieferten hl. Messe geblieben wären als auch die verschiedenen liberal-protestantischen “Neuerungen” offen als das bezeichnet hätten, was sie sind, hätten sie sicherlich mehr Gläubige ansprechen und für den überlieferten katholischen Glauben gewinnen können. Und wäre ihre Liebe zur Wahrheit stärker gewesen als die Bereitschaft zu unzulässigen, ja faulen Kompromissen mit der modernistisch gewordenen Obrigkeit, hätten sie auch den verderblichen Einfluss jener “Reformen” auf die Gläubigen wenigstens etwas (bzw. etwas mehr) zurückhalten können.

Und wären auch jene Gläubige, die gemerkt hatten, dass da etwas nicht in Ordnung ist, der Sache wirklich auf den Grund gegangen statt letztendlich auch gegen das eigene Gewissen falsche Rücksichten auf wen auch immer zu nehmen, hätten sie sowohl selbst deutlich mehr an gesunder Glaubenssubstanz retten als auch in ihrem Verantwortungsbereich der nächsten Generation entsprechend mehr an geistigen Schätzen übergeben können.

Da man sich aber aus welchen Gründen auch immer nicht unbedingt der entstandenen ziemlich “unbequemen” Situation stellen und zudem kompromisslos der katholischen Wahrheit folgen wollte, unterdrückte man offenkundig auf die eine oder andere Weise die leise aber nachhaltige Stimme des Gewissens ...und suchte nach verschiedensten Ausreden, nicht unbedingt ganz konsequent handeln zu müssen! Und da kam vielen unter anderem natürlich auch die Berufung auf den falsch verstandenen “Gehorsam” der kirchlichen Obrigkeit gegenüber ganz recht!

So aber gewöhnte man sich nach und nach an die “Neuerungen” ...und verlor zunehmend das aus den Augen, was einem einst lieb und teuer war. Und die wiederholten Akte einer solchen “gewaltsamen” Verdrängung der bereits erkannten Wahrheit leitete in nicht wenigen Fällen den Prozess der Verblendung ein, so dass man später noch viel schlimmere “Entgleisungen” der postkonziliaren “Kirche” und Hierarchie zu “entschuldigen” wusste! So kommt man dann mehr und mehr dem Zustand einer gänzlichen geistigen Apathie nahe!

Aber geht es denn nicht jedem von uns wenigstens bisweilen so, dass wir unter Umständen sogar größte Schwierigkeiten haben, zunächst einmal die Stimme des eigenen Gewissens zuzulassen? Man merkt oder ahnt wenigstens, dass man in irgendeiner Angelegenheit irgendwie Unrecht hat, ...und möchte sich dies trotzdem nicht eingestehen. Man sucht dann halt nach Gründen, die (angeblich) dafür sprechen würden, sich doch im Recht zu wähnen und den (berechtigten) Zweifel an der eigenen ganz besonderen Rechtschaffenheit zu unterdrücken. Und wir wissen, dass und wie der Mensch bisweilen ziemlich erfinderisch sein kann, wenn es darum geht, eine Ausrede dafür zu finden, der Wahrheit nicht in die Augen schauen zu müssen!

Oder man bildet bzw. redet sich ein, ein gewisses sittliches Niveau erreicht zu haben bzw. nicht unter ein bestimmtes Maß an moralischer Anständigkeit gefallen zu sein. Dann aber muss man feststellen, dass man entgegen der eigenen Vorstellungen doch auch entweder mit einer bestimmten Art von Versuchung zu kämpfen hat oder ihr bisweilen vielleicht sogar erliegt. Und da sträubt sich in uns in einer solchen Situation alles dagegen, uns die eigenen zuvor nicht gedachten Unzulänglichkeiten einzugestehen bzw. uns auch der doch etwas schwerwiegenderen Verfehlungen anzuklagen. Leider werden nicht wenige Menschen auch da nicht verlegen, sich entgegen jeglicher objektiven Realität etwas vorzumachen und sich von der Tendenz her als eine Art reiner Engel zu sehen.

Oder wir werden mit einer (sachlichen) Kritik von außen konfrontiert - entweder wurde von uns zuvor ein (nennenswerter und nicht leicht zu übergehender) Fehler begangen oder wir zeichnen uns durch die eine oder andere nicht unbedeutende Unart aus, die z.B. auch den anderen Menschen das Leben schwer macht. Aber anstatt in sich zu gehen und sich zunächst einmal in aller Ruhe und Sachlichkeit darüber Gedanken zu machen, ob denn diese an uns geäußerte Kritik an sich zutrifft oder nicht, regen wir uns viel zu oft zuallererst über jene Personen auf, die an uns etwas bemängeln, und nörgeln in scheinheiliger Empörung an ihnen unzufrieden herum. Der sprichwörtliche Überbringer der schlechten Nachricht wird von uns direkt oder indirekt für das verantwortlich gemacht, wofür wir allein die Schuld tragen!

Vielleicht suchen bzw. erfinden wir dann an diesem Personenkreis darüber hinaus auch noch künstlich Fehler, um nur von uns abzulenken und die unbequeme Wahrheit nicht zu sehr an uns heranzulassen! Man will ja ein “gutes” bzw. ein “ruhiges Gewissen” bewahren, auch wenn dies auf Kosten der Wahrheit geschieht. Aber dies wäre wiederum ein klares Indiz dafür, dass man doch nicht so sehr an der Wahrheit interessiert ist, wie man sich und andere glauben machen möchte, und statt dessen doch lieber Flucht vor der Realität betreibt!

Oder man erliegt selbstprahlerisch der verführerischen Illusion, ganz besondere und weit herausragende Leistungen erbracht zu haben; und gibt vielleicht sogar noch in aller Öffentlichkeit ungeniert an, man würde den anderen auf die eine oder andere Weise weitaus überlegen sein. Dann aber zeigt einem die sich (nur bisweilen?) zu Wort meldende Stimme des Gewissens, dass man sich da lediglich eine Art Fata Morgana einbildet, oder dass man in seinem Verhalten z.B. ungerechte Doppelmoral an den Tag legt. Aber die krankhafte Ich-Sucht verhindert halt, dass man zunächst vor Gott und sich selbst und dann aber auch vor den anderen die auf einen bisweilen natürlich unangenehm wirkende Wahrheit eingesteht.

Und gerade das ist ja das Hauptproblem in allen diesen Fällen. Zwar kann sich der Mensch auf der Flucht vor der Wahrheit noch so sehr etwas einreden bzw. sich durch das Erfinden von Ausreden auszeichnen. Aber weder wird er dadurch “erfolgreich” sein können, vor der Wahrheit als solcher (!) zu fliehen oder sie nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen zu manipulieren, noch imstande sein, irgendein Problem zu lösen. Man belügt nicht nur andere, sondern vor allem auch sich selbst.

Das geradezu Diabolische daran ist auch, dass jede Runde einer solchen oder ähnlichen Flucht vor der Realität eine jeweils weitere nach sich zieht! Denn um die bereits eingegangenen Kompromisse mit der Lüge möglichst nicht ans Licht kommen zu lassen und somit sowohl vor sich selbst als auch vor den anderen zu vertuschen, fühlt man sich “genötigt”, eine weitere Lüge zu erfinden. Man redet sich gegen das eigene Gewissen ein, dazu berechtigt oder veranlasst zu sein, und leitet eine zweite, dritte und jeweils weitere Runde bei seiner Flucht vor der Wahrheit ein - das Maß der Verwicklung in die Lüge und die eigenen Widersprüche wächst leider stetig an!

Man ähnelt da einem Menschen, der - entweder selbstverschuldet oder auch ohne eigene Schuld, aber jedenfalls unglücklicherweise - irgendein ihn offensichtlich sehr belastendes Problem mit sich herumschleppt. Der aber, statt der Wahrheit in die Augen zu schauen und sich somit diesem Problem zu stellen, um es möglichst zu lösen, doch lieber z.B. zu Alkohol oder zu Drogen greift, um dieses Problem zu verdrängen und sich somit nicht der entstandenen Situation zu stellen. Schon bald aber wird ein solcher Alkohol- oder Drogenkonsument richtig abhängig von seinen Suchtmitteln. Ein weiterer Schritt wird sein, dass er mit der Zeit immer höhere Dosen an Alkohol oder Drogen wird konsumieren müssen, bis er eines guten Tages ein komplettes Desaster erleidet!

So verheddert sich auch ein Mensch, der hartnäckig und absichtlich vor der Wahrheit in seinem Leben flieht, im Netz der eigenen bzw. der selbst gesponnenen Lügen und findet allmählich auch nicht mehr allein aus diesem Gestrüpp heraus. Man vergrößert da ebenfalls das Risiko, vollends die gesunde Kontrolle über sein Leben zu verlieren bzw. den vernünftigen Überblick über sein Tun und Lassen zu behalten. Schlussendlich wird man irgendwann auch nicht mehr in der Lage sein, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden und verliert einen jeglichen Sinn für die Realität! Es ist erschreckend, wenn man entsprechende menschliche Schicksale betrachtet!

Aber wie jede Umkehr nur mit der Selbsterkenntnis bzw. mit dem Eingestehen der eigenen Verfehlung vor Gott und dem eigenen Gewissen beginnen kann, so muss sich auch ein Mensch, der sich wie auch immer mit der Lüge in seinem Leben “arrangiert” und sie gewissermaßen zum Teil seines Wesens gemacht hat, zunächst einmal seines Problems bewusst werden. Er muss aufhören, es zu verharmlosen oder zu verdrängen, und sollte es sich statt dessen tunlichst eingestehen und sich ihm stellen! Denn nur dann ist grundsätzlich noch Hoffnung auf Besserung gegeben.

Lehrt uns ja die menschliche Erfahrung, welche enorme reinigende und heilende Wirkung unter Umständen auch eine ehrliche und in gewissem Sinn schonungslose Aussprache unter zwei oder mehr beteiligten Personen haben kann! Wenn alles auf den Tisch kommt und nichts Wesentliches mehr unter den Teppich gekehrt wird und dadurch sowohl dem eigenen Sich-Etwas-Vormachen als auch dem gegenseitigen Belügen der Boden entzogen wird, dann ist erst die (erste!) Voraussetzung für die persönliche Ehrlichkeit wie gemeinsame Aufrichtigkeit im Umgang mit der Wahrheit gegeben. Ein solches reinigendes Gewitter kann sehr wohl so manche “Wunder” wirken!

Und der weitere Schritt zur Besserung kann nur im konsequenten und ausnahmslosen Anerkennen und Befolgen der Wahrheit bestehen! Und zwar muss dieser Schritt in jedem Fall radikal sein, von der Wurzel her erfolgen! Denn wer sich auf Alkohol- oder Drogenentzug begibt, darf sich ja auch nicht die berühmte Ausnahme von der Regel “gönnen”, denn sonst fällt er sofort wieder voll und ganz (womöglich noch ärger) in sein altes Laster zurück. Auch in dieser Hinsicht gilt die bekannte menschliche Weisheit: “Wehret den Anfängen!” Haben wir gegebenenfalls keine falsche Scheu, mit diesem Prozess anzufangen. Denn davon wird ein betroffener Mensch nur in verschiedenster Hinsicht profitieren können!

Im Evangelium werden die Worte Jesu überliefert: “Wenn ihr in Meiner Lehre verharrt, seid ihr wahrhaft Meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen” (Joh 8,31f). Für unser Thema hier heißt dies, dass ein jedweder Mensch grundsätzlich nur dann den Segen Gottes finden, gottwohlgefällig leben und den inneren Frieden des Herzens erlangen und bewahren kann, wenn er bereit ist, dem Anspruch der Wahrheit auf ihre unbedingte Befolgung seitens der menschlichen Willensfreiheit zu entsprechen! Denn da Christus “die Wahrheit” ist (vgl. Joh 14,6) und Ihm nur “im Geiste und Wahrheit” gedient werden kann (vgl. Joh 4,24), kann auch eine jegliche uns zutiefst knechtende Fessel der Unwahrhaftigkeit und der Verwicklung in die eigenen Lebenslügen nur in der Kraft dieser befreienden und unsere tiefen Wunden der Seele heilenden Wahrheit Jesu Christi gesprengt werden!

Da wir aber wissen, dass wir schwach sind und leicht zur Sünde neigen, wollen wir der sich uns immer wieder nahenden Versuchung zum Abfall von Gott und der Wahrheit auch mit dem folgenden Gebet der Heilig-Geist-Litanei begegnen: “Vom Widerstreben gegen die erkannte Wahrheit - erlöse uns, o Herr!”


P. Eugen Rissling

 

 

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