Kirche und Tradition


Teil 1

Nachdem wir in unseren Ausführungen über “Den Christlichen Glauben” zunächst das Thema der Erkennbarkeit und des Seins Gottes behandelt, uns Gedanken über Seine Offenbarung und Sein Heilswirken im Sohn gemacht hatten, wiesen wir in der letzten Folge der Ausführungen darauf hin, dass Jesus Christus Seine Kirche u. a. besonders zum Zweck der Fortführung dieses Seines Heilswirkens unter den Menschen für die Zeit nach Seiner Himmelfahrt gegründet hat (“Beiträge”/21, S.13ff.). Mit diesem Erweis der Kirche als des letzten Gliedes im Prozeß der Heilsvermittlung haben wir das uns zur Behandlung vorgelegte Thema eigentlich abgeschlossen. Da sich aber daraus einige wichtige Fragen und weitreichende Schlußfolgerungen ergeben, die von enormer Bedeutung für die Existenz und das Wirken der Kirche als Heilsinstitution sind, wollen wir folgende Ausführungen den vorangegangenen über “Den Christlichen Glauben” anschließen. 

 

Die Apostolizität der Kirche

Wie bereits erwähnt, sollte die junge Gemeinde der Christen - und darin besonders die Priesterschaft - auf je verschiedene Weise und in je verschiedenem Umfang Mission betreiben, indem sie den Menschen die frohe Botschaft (=”Evangelium”, vgl. Lk 2,10f.) vom Kommen des Erlösers verkündet und ihnen die göttlichen Gnaden vermittelt. So wollte Christus möglichst alle Völker erreichen und jedes Zeitalter ansprechen. Und die junge Kirche hat diese Aufgabe in beispielhafter Weise in Angriff genommen. Wie die Kirchengeschichte bezeugt, nahm durch das aufopferungsvolle Wirken der Apostel und der Jünger die Zahl der Christen zu, auch geographisch breitete sich der christliche Glaube mit der Zeit immer mehr aus. 

Nun gut, solange die Aposteln lebten, und man mit ihnen in Kontakt kam, war es ihren Zuhörern klar, dass jene genau wußten, wovon sie sprachen, da sie ja selbst Zeugen der Heilsereignisse waren (vgl. Apg 1,21f.). Je zeitlich länger und je räumlich weiter, umso mehr mußten aber Menschen mit der Missionsaufgabe betraut werden, die selbst keine Augen- und Ohrenzeugen der Taten und Worte Christi mehr waren, die Ihn nicht mehr persönlich erlebt hatten. Besonders seit dem Tod des letzten Apostels, die ja selbst noch Offenbarungsträger waren, stellte sich umso dringender die Frage, wie unter diesen veränderten Umständen die Echtheit und Authentizität des christlichen Glaubens gewährleistet werden kann! Da ja nach den Aussagen Christi nur der das Leben in Gott, das ewige Heil erlangen kann, wer geistig wiedergeboren werden will (vgl. Joh 3,3ff.), d.h. wer sowohl “glaubt” als auch “sich taufen läßt” (vgl. Mk 16,16), muß den Menschen der Zugang zu jenem (dogmatisch-korrekten) Glauben und zu jenen (einwandfrei-wirksamen) Sakramenten ermöglicht werden, durch die die Christen des apostolischen Zeitalters Anteil am Leben Gottes gewonnen hatten! Können wir aber heute nach zweitausend Jahren Christentums sicher sein, dass in der Zwischenzeit keine Verzerrung der theologischen Inhalte des gesamten christlich-katholischen Glaubens stattgefunden hat? Sind wir wirklich berechtigt, davon auszugehen, dass uns die katholische Kirche des 20.Jahrhunderts (nicht identisch mit der modernistischen Amtskirche!) keinen Glauben lehrt, der von dem der Apostel und der ersten Christen abweicht? Ist nicht die Möglichkeit gegeben, dass sich im Laufe der Zeit substantielle theologische Irrtümer eingeschlichen haben? 

Nun ja, schon den Aposteln war die ganze Tragweite ihrer apostolischen Stellung bewusst. Da sie ja berufen worden sind, den Menschen die göttliche Erlösung in Jesus Christus zu vermitteln (vgl. “Beiträge”/21, S.15f.), wußten sie sehr genau um ihre enorme Verantwortung für das ewige Heil der Menschen. Sie wußten, dass ihre Missionstätigkeit eigentlich nur dann wirklich Sinn macht und vom Segen Gottes begleitet werden wird (und werden kann!), wenn sie dafür Sorge tragen, dass den Menschen durch sie derselbe Glaube (ohne inhaltliche Abstriche oder Veränderungen) verkündet wird, den sie ihren göttlichen Meister haben predigen hören. So schreibt der hl. Apostel Paulus: “So betrachte man uns als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes. Da verlangt man von einem Verwalter weiter nichts, als dass er treu befunden wird” (1 Kor 4,1). Timotheus, sein Schüler, erhält von ihm die Weisung: “Timotheus, bewahre das anvertraute Gut” (1 Tim 6,20). Den Korinthern schreibt er: “Wir sind Gottes Mitarbeiter. [...] Als umsichtiger Baumeister habe ich mit Hilfe der Gnade Gottes den Grund gelegt. Ein anderer baut darauf weiter. Mag jeder zusehen, wie er weiterbaut. Denn niemand kann einen anderen Grund legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus” (1 Kor 3,9-11). 

Somit ist hier der Kern des Traditionsverständnisses der katholischen Kirche angesprochen worden, das von Anfang an zur Grundüberzeugung (!) der katholischen Kirche und eines jeden Christen gehörte. Die Apostel haben den Glauben von Christus empfangen und ihn dann unverfälscht weitergegeben. Die Aposteljünger sahen ihre Aufgabe ebenfalls darin bestehend, das empfangene Glaubensgut im seinem Kern unverändert an die nächste Generation weiterzuleiten. Und so sah sich die Kirche über alle Jahrhunderte hindurch verpflichtet, den von den Vätern überlieferten Glauben rein zu bewahren und unversehrt an kommende Generationen zu überliefern. Handelt es sich ja hier nicht um irgendwelche irdische Weisheiten oder um rein menschliches Vermögen. Darf es ja auch der Kirche schließlich nicht um Selbstpräsentation gehen. Nein, Christus, und sonst niemand (!), ist als Gottessohn Mensch geworden und hat zu uns gesprochen; Er ist als Unschuldiger unter gewaltigen Schmerzen am Kreuz stellvertretend für uns gestorben und hat der ganzen Geschichte eine neue, nachhaltig-positive Wendung gegeben; Seine Gnade und Sein göttliches Leben sind es, die die Kirche durch ihren Mittlerdienst an die Menschen weiterleiten soll. Nicht der Mensch ist der Inhalt und Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung, sondern das Heilswirken des göttlichen Erlösers! 

Je klarer einem dieser Sachverhalt wird, umso deutlicher leuchtet die Erkenntnis auf, dass die Kirche, will sie Kirche Jesu Christi bleiben, nicht anders kann als sich ohne Wenn und Aber zur Treue zum überlieferten Glaubensgut zu verpflichten! Hält sie sich an diese Verpflichtung und erfüllt sie somit den Zweck ihrer Stiftung, ist sie als solche gewissermaßen der fortlebende Christus, da sie ja Sein Wirken fortsetzt und den Menschen aller Zeiten und Nationen Seine erlösende Gnade vermittelt. Weicht sie aber davon ab und “vermenschlicht” sie das überlieferte Glaubensgut, verliert sie ihre übernatürliche Dimension und wird lediglich zu einer rein menschlichen Organisation! Und diese Vorstellung von der Tradition als einer heiligen Überlieferung gehörte seit Beginn zum festen und unwandelbaren Bestandteil kirchlichen Denkens. Sagt ja schon der hl. Apostel Paulus: “So steht denn fest, Brüder, und haltet euch an die Überlieferungen, die ihr mündlich oder schriftlich von uns empfangen habt” (2 Thess 2,15). Und hat er sich ja auch selbst daran gehalten, indem er (als wesentliche Glaubenssubstanz) nur das überlieferte, was er “vom Herrn empfangen” hatte (vgl. 1 Kor 11,23). 

Somit gehört zu den wichtigsten Pflichten und Aufgaben der Kirche Jesu Christi, sorgfältig über die Reinheit des Glaubens zu wachen! Ihr darf es nicht einmal in den Sinn kommen, etwas am wesentlichen Glaubensgut zu ändern und es durch menschlich-weltliches Beiwerk zu entheiligen. Denn es handelt sich ja hierbei nicht bloß um irgendwelche fromme Theorien, sondern um die bitter ernsthafte Realität Gottes und das ewige Heil der Menschen! 

“Was ist ´das anvertraute Gut´? Was dir anvertraut, nicht von dir erfunden ist, was du empfangen, nicht selber ausgedacht hast. Sache ... öffentlicher Überlieferung. Etwas, was dir überkommen, nicht von dir hervorgebracht ist, wessen du nicht Urheber, sondern Wächter sein sollst. [...] ´Bewahre das anvertraute Gut´, hüte unverletzt und unbefleckt das Talent des katholischen Glaubens!” (hl. Kirchenlehrer Vinzenz von Lerin, Merkbuch 2:22; zitiert nach: Rudloff, L., Das Zeugnis der Väter. Regensburg 1937, S.46.) 

Jesus Christus hat den Aposteln während Seines Aufenthaltes auf Erden genügend Anweisungen gegeben, sei es, was Seine Person oder Seine Heilstaten betrifft, sei es, was den dogmatisch-verpflichtenden Inhalt des Glaubens oder die Wesensbestandteile der hl. Sakramente angeht. So heißt es neben vielen einzelnen Belehrungen und Hinweisen, die uns aus der Lektüre der Hl. Schrift bekannt sein dürften, zu Beginn der Apostelgeschichte ganz allgemein, Jesus sei den Aposteln nach Seiner Auferstehung “vierzig Tage hindurch erschienen”, Er habe “sie über das Reich Gottes belehrt” und ihnen “durch den Heiligen Geist Seine Aufträge erteilt” (Apg 1,2f.). Da nicht jedes Wort, das aus dem Munde Christi kam, aufgeschrieben wurde, ist manches in der Kirche mündlich überliefert worden. Und dieser Glaube der Apostel ist Jahrhunderte hindurch von einer Generation zur anderen weitergegeben worden. Auch sind einige Gedanken, die im Evangelium vorzufinden sind, nur in Kürze oder äußerst zusammengefaßt dargelegt worden, weshalb sich die Kirche für berechtigt halten durfte, diese unter Eingebung des Heiligen Geistes und unbedingt in inhaltlicher Harmonie (!) zum Grundgedanken des Evangeliums deutlicher auszuführen oder gelegentlich auch folgerichtig weiter zu entfalten. 

Aber durch das grundsätzliche Festhalten am Prinzip der Tradition wurde und wird die Kontinuität im Glauben gewährleistet - der kirchliche Glaube der späteren Generationen ist derselbe Glaube, wie ihn die früheren Geschlechter kannten, ja wie ihn die Aposteln selbst besaßen, wie sie ihn von Christus empfingen. Diese Treue zum Glauben der Apostel bedingt auch, dass die katholische Kirche über alle Jahrhunderte hindurch in Lehre und (gottesdienstlicher) Praxis identisch mit sich selbst bleibt! Es ist nicht nur derselbe Inhalt, der uns gepredigt wurde, sondern auch dieselbe Heilsinstitution, die Jesus Christus gestiftet hat und die uns das göttliche Heil vermittelt! 

Im Laufe der Zeit haben sich häufig politische Verhältnisse geändert und gesellschaftliche Grundstrukturen gewandelt. Modeerscheinungen verschiedenster Art diktierten und diktieren viel zu oft das Tagesgeschehen. Je moderner sie sind, in umso kürzeren Zeitabständen lösen sie sich also gegenseitig ab - was heute noch als der letzte Schrei der Mode gilt, wird schon morgen als veraltet dargestellt. Allein die katholische Kirche ist die Instanz, die sowohl in ihren Grundstrukturen als auch in ihrem Lehrinhalt keinem Zeitwandel unterliegt, die in unbedingter Treue zu ihrem göttlichen Haupt und Stifter Jesus Christus verbleibt! Und dadurch vermag diese “Kirche des lebendigen Gottes” den Menschen auch als “die Säule und Grundfeste der Wahrheit” (1 Tim 3,15) zu dienen. Sie ist der Fels in der Brandung - kein Sturm der Zeit und der historischen Geschehnisse war imstande, sie von ihrer ursprünglichen, ihr von Gott vorgegebenen Bestimmung abzubringen, d.h. sie als die Vermittlerin des Heils und der Erlösung abzuschaffen! 

Und dieses oben dargelegte Traditionsverständnis hat die Kirche vor der Einschleichung theologischer Irrtümer bewahrt. Weil den Gliedern der Kirche ihre Grundidee bekannt und ihre Zweckbestimmung bewusst blieb, funktionierten auch ihre gesunden Abwehrmechanismen. Und dadurch wurde im Prinzip zu jeder Zeit jeglicher Inhaltsverzerrung im Hinblick auf das wesentliche Glaubensgut vorgebeugt. 

Somit vermochte die katholische Kirche bis tief ins 20.Jahrhundert hinein denselben Glauben zu lehren, wie ihn bereits die Aposteln verkündeten. Auch wir, die wir uns heute in Treue zu Christus und Seiner Kirche zum Glauben unserer Väter bekennen, haben durch diesen unseren Glauben Zugang zum apostolischen Glauben, zum Glauben der Apostel. Und wie viele Heilige, bekannte wie unbekannte, hat er hervorgebracht! Wie vielen Menschen hat er das ewige Leben, das Leben in Gott vermittelt! Deswegen dürfen wir in gewissem Sinn auch stolz sein, mit allen Aposteln und Kirchenlehrern, mit den Martyrern und Bekennern, mit den Mönchen und Jungfrauen im Glauben (und darin auch im Lobpreis und im wahren Gottesdienst) verbunden zu sein! Wir dürfen uns freuen, zu der “Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche” (Credo) zu gehören und ihre zwar unwürdigen, aber dennoch Glieder zu sein! 

 

P. Eugen Rissling
 


Zurück Hoch Startseite