Kirche und Tradition


Teil 2

Die Tragweite des Traditionsverständnisses der Kirche

Wie wir bereits im ersten Teil dieser unserer Ausführungen sahen (vgl. “Beiträge”/22, S.10ff.), spielt das Prinzip der Tradition als heiliger Überlieferung die zentrale Rolle im Leben der katholischen Kirche. Ihr Selbstverständnis kann die Kirche ja rechtens nur aus der historischen Tatsache ableiten, dass sie von Jesus Christus, ihrem göttlichen Haupt, zu dem Zweck gestiftet wurde, Seine Erlösung und Sein Heil an möglichst alle Menschen zu vermitteln: “Sie ist ja die ewige Hüterin Seiner Erlösung und deren Verwalterin für die Völker”1. Und die Treue zum überlieferten Glaubensgut ermöglicht erst, wie wir darlegten, die Realisierung dieser Sendung. Deshalb hat sich die Kirche bis ins 20.Jahrhundert hinein an diesen Grundsatz der heiligen Überlieferung gehalten. 

Heute wird häufig der “vorkonziliaren” Kirche zum Vorwurf gemacht, dass es ihr lediglich darum gegangen sei, irgendwelche sakrale Formeln und Riten zu konservieren und für die Nachwelt als eine Art kirchlichen Brauchtums zu erhalten. Leider teilt diese Kritik auch ein nicht unbeträchtlicher (oder eher überwiegender) Teil derer, die sich selbst noch als “Katholiken” bzw. “katholische Hirten” bezeichnen. Auch wird gesagt, es sei blinde Sturheit und Unaufgeschlossenheit gegenüber der Entwicklung in der Welt gewesen, wenn sie keine Änderungen am dogmatischen Inhalt ihrer Lehren zugelassen hat. Diese Vorwürfe müssen aber, da sie die wahren theologischen Hintergründe mißachten, als unzutreffend zurückgewiesen werden! 

Nein, der katholischen Kirche aller Jahrhunderte als solcher geht es im Hinblick auf ihr Traditionsverständnis nicht um das unvernünftige Festklammern am toten Buchstaben, sondern letztendlich um die Bewahrung und Übermittlung des unerschaffenen Lichtes Gottes - dies wird von ihren Kritikern unbeachtet gelassen! Die Erlösung und die Gnade Gottes, das ewige Leben, stehen hier im Vordergrund, und nicht die Frage, ob dies oder jenes in der Kirche modern ist oder nicht. Und die Wahrheit Gottes unterliegt, da absolut und vollkommen, keinem Einfluß durch den jeweiligen Zeitgeist. Darum mußte die Kirche unabhängig vom jeweiligen Zeitalter gewisse unmißverständliche Forderungen erheben und sich selbst an bestimmte Prinzipien zu halten verpflichten. Dies hat natürlich auch für die Gegenwart und die Zukunft zu gelten. Außerdem erfolgt diese Vermittlung göttlichen Lebens nicht irgendwie abstrakt oder bloß mittels des guten Willens eines Menschen. Die Kirche muß, da auf Erden und unter Wesen existierend, die mit äußeren Sinnen behaftet sind, sich auch sinnlich greifbarer Zeremonien bedienen, die ihrerseits entsprechende religiöse Inhalte zum Ausdruck bringen. Daher hat sich die Kirche bei der Erfüllung ihrer erhabenen Sendung zweckgemäß auch an bestimmte überlieferte und daher verpflichtend vorgegebene geheiligte Formen und Riten zu halten, die ihre Wirksamkeit und Segenskraft im liturgischen Vollzug der Kirche entfalten. Denn ohne diese gottesdienstlichen Zeremonien als lebenserfüllte und lebensvermittelnde Handlungen kann sie dem Hauptzweck ihrer Stiftung, dem Missionsauftrag, ebenso wenig nachkommen wie durch Abweichen von göttlich geoffenbarten und kirchlich überlieferten Glaubensinhalten. 

Wie lebendig in der Kirche das Bewusstsein von der Tradition als heiliger Überlieferung sein muß, beweisen u. a. auch die in der frühen Kirche wiederholt vorzufindenden Verweise auf die Bischofslisten in den jeweiligen Lokalgemeinden. So schreibt z.B. der hl. Irenäus, Bischof und Martyrer (+202) in seiner Abhandlung “Gegen die Häresien” III, 3.1-3: “Die von den Aposteln in der ganzen Welt verkündete Tradition kann in jeder Kirche jeder finden, der die Wahrheit sehen will, und wir können die von den Aposteln eingesetzten Bischöfe der einzelnen Kirchen aufzählen und ihre Nachfolger bis auf unsere Tage.” Die damals allgemein verbreitete Überzeugung, dass die jeweiligen rechtmäßigen Hirten nichts anderes tun (können) als das empfangene Glaubensgut unverfälscht weiterzugeben, war so selbstverständlich, dass sie keiner gesonderten Erwähnung bedurfte! Daher Irenäus` Argument, dass der Erweis der apostolischen Nachfolge auch die Übereinstimmung der Glaubenslehre der späteren Bischöfe mit der der Apostel selbst beinhaltet. 

Und nachdem er die Liste der Römischen Bischöfe, der Päpste, lückenlos aufzählt, stellt der hl. Irenäus abschließend fest: “In dieser Ordnung und Reihenfolge ist die kirchliche apostolische Überlieferung auf uns gekommen, und vollkommen schlüssig ist der Beweis, dass es derselbe lebenspendende Glaube sei, den die Kirche von den Aposteln empfangen, bis jetzt bewahrt und in Wahrheit uns überliefert hat”2

Auf dem Hintergrund des gesamten Traditionsverständnisses der katholischen Kirche läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, dass das uneingeschränkte Festhalten an eben diesem Prinzip der heiligen Überlieferung auch die Kirche als solche, d.h. die Kirche als göttliche Heilseinrichtung, bedingt. Erst auf diese Weise wird die “Kirche” als gesellschaftliche Gruppe zur Kirche als Heilsinstitution, zur Kirche als dem fortlebenden Christus, zur Kirche als der Stiftung Jesu, die uns Seine Erlösung und Sein Heil überbringt. Es ist schlichtweg unmöglich, dass es die wahre christliche Kirche gäbe, ohne dass sie sich ohne Wenn und Aber zum ehernen Grundsatz der kirchlichen Tradition bekennen würde. Wollte und sollte also irgendeine religiöse Organisation oder Gemeinschaft, die sich die allgemeine Bezeichnung “Kirche” beilegt und wie auch immer groß sein möchte, sich in einem wesentlichen Punkt der Lehre oder Sakramentenspendung nicht (oder nicht mehr) an die kirchliche Tradition gebunden fühlen, würde sie spätestens dann aufhören, Kirche im eigentlichen Sinn zu sein. Denn um Kirche im Sinne ihres göttlichen Gründers zu sein, wird unbedingt die uneingeschränkte Kontinuität im Glauben verlangt! 

Darüberhinaus wird analog auch die Kontinuität in den Riten der katholischen Kirche verlangt, in denen sie das Hl. Meßopfer feiert und die Hl. Sakramente spendet. Die Kirche kennt und anerkennt nicht nur einen, sondern mehrere Riten (neben dem Römischen noch den Byzantinischen, Koptischen, um nur einige zu nennen), die alle, da sie denselben Glauben beinhalten und (eindrucksvoll) zum Ausdruck bringen, auch gleichwertig untereinander sind. Ein jeder von ihnen hat im Laufe der Zeit natürlich auch eine gewisse Entwicklung und Ausgestaltung genommen, bis sie dann irgendwann ihre endgültige Gestalt annahmen (der Römische Meßritus als solcher unter Papst Pius V.). Weil aber jeder dieser Riten in seinem Kern bis auf das apostolische Zeitalter zurückreicht, weil sie nicht bloß fromme Symbole darstellen, sondern die lebenspendende Gnade Gottes mitteilen, wurden und werden sie demzufolge (mit vollem Recht!) als geheiligt angesehen und daher auch wie der Augapfel gehütet. Jede der Teilkirchen war stolz auf ihren Ritus und nicht bereit, ihn zugunsten eines anderen aufzugeben. Dies hätte man als Verrat an der eigenen Teiltradition gedeutet. So wurden z.B. den Orientalischen Kirchen bei den Unionsverhandlungen im 15.Jahrhundert und den Ukrainern Ende des 16.Jahrhunderts von Rom selbstverständlich ihre jeweiligen Meß- und Sakramentsriten zugestanden und belassen. 

Wenn also das Traditionsverständnis der Kirche auch die Treue und Kontinuität in den heiligen Riten beinhaltet, dann darf die Kirche, will sie nicht mit sich selbst brechen, unter keinen Umständen ihre eigenen Riten abschaffen. Wollte sie einen anerkannten Ritus durch einen anderen apostolischen Ritus ersetzen, würde sie sich mit diesem Verhalten zwar nicht auf die Kirchengeschichte stützen können, sie würde aber trotzdem Kirche bleiben. Wollte sie aber an die Stelle eines approbierten Ritus eine gänzliche Neuschöpfung setzen, müßte man dies in aller Deutlichkeit entschieden ablehnen! Auch wenn diese neue Kreation sogar theologisch und liturgisch einwandfrei sein sollte und daher auch gültig, würde die Kirche schwerstens gegen die gesamte Tradition und das Traditionsverständnis verstoßen und somit aufhören, Kirche zu sein, weil sie sich das Recht anmaßen wollte, einen gänzlich neuen Ritus (am grünen Tisch!) zu entwerfen und einzuführen. Dieses Recht besitzt sie aber nicht. 

Ein höchst interessantes und aufschlußreiches Argument finden wir in dem Apostolischen Schreiben “Apostolicae Curae” von Papst Leo XIII., aus dem weiter oben bereits zitiert wurde. Der Papst erörtert die Frage, ob die “reformierten” Weiheriten der Anglikaner als gültig anzusehen sind oder nicht. Dabei schreibt er unter anderem: “Hingegen, wenn der Ritus mit der offenbaren Absicht geändert wird, einen anderen Ritus einzuführen, und zurückgestoßen wird, was die Kirche tut und was gemäß der Einsetzung durch Christus zum Wesen des Sakramentes gehört: dann fehlt es offenkundig nicht nur an der für das Sakrament notwendigen Intention, sondern es liegt dann sogar einen Gegen-Intention vor, die dem Sakrament feindlich ist und zu ihm in Widerspruch steht” (Papst Leo XIII., Apost. Schreiben “Apostolicae Curae” vom 13.09.1896 in: Freude an der Wahrheit, Nr.76, Wien 1996, S16f.). 

Leo XIII. will sagen, wenn die Anglikaner einen einwandfreien und kirchlich überlieferten Weiheritus (den Römischen), den sie bis dahin noch selbst bei Weihespendungen verwendeten, in ihrem Einflußbereich abschaffen und an seine Stelle einen neuen und bis dahin noch nie dagewesenen Ritus setzen, dann sind nicht nur Zweifel berechtigt, ob sie bei einer nach diesem “neuen Ritus” vollzogenen Weihespendung überhaupt noch die richtige Absicht haben zu tun, was die Kirche tut, sondern darüberhinaus darf man schließen, dass sie offensichtlich bewusst nicht das tun (wollen), was die Kirche tut! Denn wozu sonst ändern, wenn man einen intakten apostolischen Ritus hat? 

Analog dazu ist man berechtigt zu sagen, sollte eine religiöse Gemeinschaft in einem wichtigen Bereich des Glaubens oder der Liturgie gegen die allgemeine kirchliche Überlieferung handeln, dann würde dies bedeuten, dass die betreffende Gemeinschaft auch das kirchliche Prinzip der Tradition als solches in Frage stellt. Weil aber die katholische Kirche als Stiftung Christi gerade auf diesem Grundsatz der heiligen Überlieferung aufgebaut ist und nicht andersartig existieren und funktionieren kann, hätte dies zur Folge, dass diese Gemeinschaft nicht die katholische Kirche sein wollte und somit auch nicht (mehr) ist! Und was von Einzelpersonen und kleineren Gruppen gilt, ist ohne Unterschied auch von größeren Organisationen zu sagen - die Frage der Quantität spielt dabei keine Rolle. 

 

P. Eugen Rissling

 


1Papst Leo XIII., Apost. Schreiben “Apostolicae Curae” vom 13.09.1896 in: Freude an der Wahrheit, Nr.76, Wien 1996, S.18. 
2Texte der Kirchenväter, Kösel-Verlag München 1964, Band IV, S.119-120.

 

 

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