Kirche und Tradition

Teil 6

Weg aus der Krise?

In den vorangegangenen Folgen dieser Artikelreihe haben wir zunächst das Wesen des katholischen Traditionsverständnisses erläutert, die Bedeutung und die Tragweite der Apostolizität für die Existenz der Kirche Jesu Christi aufgewiesen („Beiträge“/22-23). In „Beiträge“/24 stellten wir dann die grundsätzlichen Irrtümer Luthers und des durch ihn entstandenen Protestantismus heraus und zeigten deren schwerwiegende Folgen für das Kirchenverständnis auf. 

Ferner haben wir im einzelnen die neuzeitlichen postkonziliaren Veränderungen in den Riten der hl. Messe und der hl. Sakramente untersucht und sind dabei zum eigentlich längst bekannten Ergebnis gekommen, dass das für diese unheilvollen „Reformen“ verantwortlich zeichnende neue Rom im Prinzip völlig neue, bis dahin nicht vorhandene Riten erschaffen hat und somit eindeutig den Boden der kirchlichen Tradition verlassen hat („Beiträge“/25-27). Denn - wie früher bereits ausgeführt - als katholisch und apostolisch kann in der Kirche Jesu Christi nur anerkannt werden und Geltung besitzen, was in Entsprechung zur apostolischen Überlieferung steht. Erschwerend für die vom Modernismus verseuchte offiziell anerkannte „katholische Kirche“ kommt noch hinzu, dass sie gleichzeitig sowohl den altehrwürdigen und apostolischen Römischen Messritus als auch die überlieferten Sakramentsriten verbot! 

Dabei haben wir bewusst nicht die Frage mitberücksichtigt, die wir bei anderen Gelegenheiten wiederholt behandelten, ob denn diese „neuen“ Riten überhaupt noch bzw. wenigstens als gültig anzusehen sind, d.h. als solche, die unter treuer Berücksichtigung amtlicher liturgischer Bücher in jedem Fall und zweifelsohne eine entsprechende Gnade Gottes mitteilen. Also noch unabhängig davon, ob nun diese „neue Messe“ und die „neuen Sakramente“ nach überlieferten katholischen Kriterien gültig sind oder nicht, kamen wir zu Ergebnis, dass die heutige offizielle „Kirche“ nicht die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche Jesu Christi, die Kirche aller Jahrhunderte, sein kann. Der Umstand, dass einigen der „neuen Sakramente“ als solchen tatsächlich eine zweifelhafte Gültigkeit zugesprochen (z.B. Taufe, Buße) und einigen davon die Gültigkeit sogar gänzlich abgesprochen werden muss (z.B. Messe, Bischofsweihe), will man hier die überlieferten Kriterien der katholischen Kirche anwenden, bürdet eine zusätzliche Schuldenlast auf die Schulter der für die neuzeitliche „Liturgiereform“ verantwortlichen (und diese „Reform“ vollwissentlich befürwortenden) Personen auf! 

Jeder, dem die heutige schwierige Lage der katholischen Kirche nicht gleichgültig ist und der sich um Glaube und Kirche Sorgen macht, wird sich nun die Frage stellen, welcher Weg angesichts der vorliegenden Sachlage zu wählen ist, um möglichst eine Besserung der üblen Zustände herbeizuführen. Wie kann man am sinn- und wirkungsvollsten zur Wiederherstellung der kirchlichen Tradition und der klaren katholischen Grundsätze in weiten Teilen des kirchlichen Volkes beitragen, wie kann das gefährliche Geschwür des Modernismus überwunden werden? 

Es gibt Gläubige innerhalb der amtskatholischen Glaubensgemeinschaft, die sehr unzufrieden sind mit den stattgefundenen „Reformen“, die man ihnen aufgezwungen hat und die sie wenigstens im vorliegenden Umfang nie gewollt haben. Diese Gläubigen haben das Beten und die Ehrfurcht vor Gott nicht verlernt und besitzen in ihrem Herzen in der Regel noch einen mehr oder weniger gesunden Glauben. Im Prinzip sehnen sie sich an die früheren kirchlichen Verhältnisse zurück. Dennoch machen sie - ob ihnen das nun voll bewusst ist oder nicht - einen kapitalen Fehler. Sie nehmen trotz aller berechtigten und notwendigen Kritik an den speziell liturgischen „Neuerungen“ an diesen doch mehr oder weniger voll und ganz teil! Sie besuchen nämlich die „neue Messe“ und lassen die „neuen Sakramente“ über sich ergehen. Und das ist ein Widerspruch! Man kann nicht auf der einen Seite etwas mit Worten ablehnen, welchem man sich aber auf der anderen Seite in der Praxis gleichzeitig unterwirft. Das hilft überhaupt nicht. 

Dies trifft u. a. auch auf „Kardinal“ Ratzinger zu. Gelegentlich ist von ihm eine teilweise sogar scharfe Kritik der neuzeitlichen liturgischen „Reformen“ zu hören. Nur was bringen schöne Worte, wenn er sie in der liturgischen Praxis nicht mit eindeutigen Taten untermauert? Verwendet er ja bei seiner Zelebration tagtäglich den „Novus Ordo Missae“! Einige Gläubigen gehen etwas weiter und nehmen bei Gelegenheit lieber an Messen teil, die von wem auch immer noch nach dem überlieferten Ritus gefeiert werden. Aber damit wird dasselbe Problem nur etwas verschoben und nicht aufgehoben. Liebt man nämlich die Römische Liturgie, die auf uns aus apostolischer Zeit übergekommen ist, muss man die modernistische „Eucharistiefeier“, die erst vor etwa drei Jahrzehnten künstlich geschaffen wurde, unbedingt ablehnen und somit auch in der Praxis unbedingt meiden! Einige Gruppen, wie z.B. das Umfeld der Zeitschrift „Fels“, treten dafür ein, dem überlieferten Meßritus denselben Stellenwert zukommen zu lassen wie der „neuen Messe“ Pauls VI. Jeder Priester solle in der liturgischen Praxis die Möglichkeit besitzen, auch den „alten“ Ritus zu wählen. 

Zwar klingt dieser Vorschlag ziemlich „fromm“, dennoch birgt er fast noch größere, weil subtilere, Gefahren. Das Problem liegt nämlich weniger darin, dass man - wenn einem diese Unterscheidung erlaubt sei - den „alten“ Ritus dem „neuen“ gleichstellen wolle, sondern darin, dass man den „neuen“ dem „alten“ gleichstellen wolle. Man schlägt hier allen Ernstes vor, die modernistische „Eucharistiefeier“, die ein künstliches Produkt von Theologen darstellt, die offensichtlich nicht mehr im Besitz des katholischen Glaubens waren, samt ihren ganzen dogmatischen Unzulänglichkeiten und offenkundigen Irrtümern gleichwertig behandeln zu lassen wie die altehrwürdige Römische Liturgie, die den Geist des christlichen Altertums atmet! Die Wahrheit soll auf dieselbe Stufe gestellt werden wie die Lüge, das Recht soll dieselbe Geltung besitzen wie das Unrecht. Und ein Kompromiss zwischen Licht und Finsternis ist nicht nur unmöglich, der Versuch, einen solchen einzugehen, widerstreitet Gott. Und dies ist äußerst gefährlich! 

Derselbe ernste Vorwurf, dass man nämlich nicht für die Tradition der Kirche eintreten kann, wenn man zugleich auch ihr Gegenteil anerkennt, muss ebenfalls in Richtung der Priesterbruderschaft St. Petrus, die ihren Sitz im deutschen Wiegratzbad hat, erhoben werden. Diese Gemeinschaft übt zwar Kritik an der postkonziliaren „Liturgiereform“ und an verschiedenen dogmatischen Lehrauswüchsen des Modernismus. Jüngstens verbot sogar deren Oberer im Widerspruch zu entsprechenden Anordnungen zuständiger römischer Stellen den ihm unterstellten Geistlichen, den „Novus Ordo Missae“ bei der Zelebration zu verwenden. (Wann wird er diese Anordnung wieder zurücknehmen müssen?) 

Dennoch anerkennt diese Priesterbruderschaft im Prinzip unzweideutig die „Liturgiereform“ Pauls VI., unter anderem auch indem sie außerhalb ihres Bereiches nicht auf der ausschließlichen Benutzung des überlieferten Missale besteht. Sie spricht sich darüberhinaus sogar ausdrücklich für die Gültigkeit der „neuen“ Riten aus, sie lädt z.B. zu Weihen bzw. „Weihen“ ihrer Seminaristen unterschiedslos auch solche „Bischöfe“ ein, die ihrerseits nach dem „neuen“ (eindeutig ungültigen) Ritus der Bischofsweihe „konsekriert“ wurden. „Autoritäten“, darunter auch und vor allem Johannes Paul II., die wiederholt offenkundig Irrlehren vertreten und verbreitet haben, die im konträren Widerspruch zu zentralen Aussagen der christlichen Offenbarung und der katholischen Glaubenslehre stehen, werden von dieser Gemeinschaft ohne jeglichen Zweifel als legitime katholische Hirten anerkannt. Wie kann man für die göttliche Wahrheit eintreten, wenn man zur gleichen Zeit nicht mit aller gebotenen Konsequenz auch die Lüge und ihre Befürworter ablehnt? Die Wahrheit nämlich ist im Hinblick auf ihren Geltungsumfang intolerant! 

In ähnlich große Widersprüche verwickelt sich auch die Priesterbruderschaft St. Pius X., die von Erzbischof Lefebvre gegründet wurde. In der Juni-Ausgabe des Jahres 1998 ihres „Mittelungsblattes“ vergleicht sie ihre Position zu einigen aktuellen Fragen mit drei anderen von ihr abweichenden Auffassungen. Dabei schreibt sie nämlich zur modernen „Eucharistiefeier“: „Die neue Messe kann wohl gültig sein, doch sie ist so schädlich für den Glauben, dass die Priester sie niemals lesen und die Gläubigen ihr niemals beiwohnen sollten“ (S.7). 

Man stelle sich das nur vor: eine Messe, die gültig sei, d.h. in der von unserem Erlöser Jesus Christus und von Seiner Kirche das unbefleckte Opfer des Neuen Bundes Gott dem Vater dargebracht werde, durch die den sie mitfeiernden Gläubigen die überreichen Gnaden der Erlösung und die eucharistische Gemeinschaft mit unserem göttlichen Herrn geschenkt werde, soll zur gleichen Zeit so schädlich sein für den Glauben, dass man an ihr eigentlich nicht teilnehmen sollte! Wer soll das verstehen können? 

Nein, wenn ein Meßritus gültig ist, dann kann er nicht dem Seelenheil der Gläubigen Schaden zufügen. Wenn er aber dies dennoch tut (woran übrigens kein Zweifel bestehen kann), dann kann er nicht gültig sein! Beides gleichzeitig geht nicht, es widerspricht sich gegenseitig. 
Ferner heißt es im „Mitteilungsblatt“: „Trotz des konservativen Anscheins zerstört Papst Johannes Paul II. in Wirklichkeit durch seinen Liberalismus die Kirche. Aber er ist dennoch Papst“. Nach katholischer Lehre ist ein Papst der oberste Lehrer der Kirche, bei der Ausübung seines Amtes ist er in gewissem Sinn sogar der Stellvertreter Jesu Christi, des eigentlichen Hauptes der Kirche. Und nun soll ein legitimer und rechtmäßiger Papst nach der seltsamen Logik der Piusbruderschaft ein Zerstörer der Kirche sein können! 

Das Papstbild, das hier präsentiert wird, ist keinesfalls katholisch, die Priesterbruderschaft St.Pius X. begibt sich mit ihrer Vorstellung zu diesem Punkt dogmatisch auf ein sehr dünnes Eis. Denn es muss wiederum gesagt werden: wenn jemand berechtigterweise Papst ist und sein Amt demnach nur in Entsprechung zur (überlieferten) Lehre der katholischen Kirche und seiner eigenen Amtsvorgänger ausübt, dann kann er kein Befürworter des theologisch-dogmatischen Liberalismus sein und somit auch die Kirche zerstören. Vertritt und propagiert aber jemand diese äußerst schwerwiegende Irrlehre, kann er nicht „dennoch Papst“ sein! 

Analoge Kritik ist anzubringen auch zu den Äußerungen des „Mitteilungsblattes“ zu den übrigen Ämtern in der katholischen Kirche. Denn es vertritt die falsche Auffassung: „Liberale kirchliche Obere müssen als Obere respektiert werden, aber man darf ihnen als Liberalen nicht gehorchen, wenn sie den Glauben zerstören“. Ist jemand in dem Sinne „liberal“, wie es hier gemeint ist, dann kann er nicht (mehr) katholisch sein. Und die Mindestanforderung an einen jeden kirchlichen Oberen ist, dass er wenigstens katholisch sei. 

Die Kirche hat im 16.Jahrhundert bezeichnenderweise nicht gelehrt, dass die vom katholischen Glauben abgefallenen und zum Protestantismus übergetretenen ehemals katholischen Priester und Bischöfe unbedingt „als Obere respektiert“, d.h. als Obere anerkannt werden müssten, auch wenn man ihnen als inzwischen Protestanten „nicht gehorchen“ dürfe, „wenn sie den Glauben zerstören“. Nein, die Kirche hat ihnen grundsätzlich jegliche kirchlich legitimierte Autorität abgesprochen! 
Diese drei Beispiele zeigen deutlich an, vor welchem gewaltigen Dilemma höchst dogmatischen Charakters die Priesterbruderschaft steht, in welches sie sich hineinmanövriert hat, weil sie unentwegt das gefährliche Unterfangen des Kompromisses zwischen zwei miteinander unvereinbaren Positionen versucht. Tritt man für die Tradition der Kirche ein, muss man nicht nur die Irrlehren, die lehrmäßigen Abweichungen von der überlieferten kirchlichen Lehre, anprangern, sondern um des Glaubens und der Kirche willen folgerichtig auch jedem Amtsinhaber einer jedweden „liberalen“ Gemeinschaft grundsätzlich und für jede seiner „Amtshandlungen“ die Autorität eines Hirten der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche absprechen! 

Weil aber die Priesterbruderschaft St. Pius X. bei jeder sich bietenden Gelegenheit nicht versäumt, ihre Zugehörigkeit zu jenem religiösen Verband zu beteuern, der aktuell von Johannes Paul II. geleitet wird und sich auch nach ihren eigenen Aussagen eindeutig gegen die Tradition der katholischen Kirche gestellt hat (und somit auch unserer festen Überzeugung nach zu Unrecht den Namen „römisch-katholische Kirche“ trägt), weil sie darüberhinaus ihre eigenen Priester unter Strafe des Ausschlusses aus eigenen Reihen ausdrücklich darauf verpflichtet, das unbefleckte Opfer des Neuen Bundes in (glaubensmäßiger und eucharistischer!) Einheit mit diesem Johannes Paul II. darzubringen, können wir nicht umhin, sie zwar zum sogenannten rechten Flügel, aber dennoch zu einem Teil der „liberalen“ Amtskirche zu zählen! Aus diesen schwerwiegenden Gründen darf jemand, der ohne Abstriche und Widersprüche für die Tradition der Kirche eintreten will, streng genommen auch nicht an den Messen dieser priesterlichen Gemeinschaft aktiv teilnehmen. Das wäre folgerichtig, sonst würde man sich nur selbst widersprechen! 

Wie wir sehen können, bieten alle diesen praktischen Lösungsvorschläge keinen zufrieden stellenden Ausweg aus der entstandenen verworrenen kirchlichen Situation. Eigentlich kann der Kirche nur geholfen, kann der Modernismus grundsätzlich nur überwunden werden, wenn man ohne falsche Menschenscheu und ohne zu verachtendes Taktieren bereit ist, sich bei der Analyse der gegenwärtigen Lage unbedingt an das kirchliche Traditionsverständnis zu halten, auf alles die eindeutigen und unwandelbaren katholischen Prinzipien anzuwenden und dann diesen schweren Weg auch konsequent zu gehen. 

Was kann man aber außer diesem klaren Bekenntnis zu den Lehren und zu den Sakramenten der katholischen Kirche noch tun, um irgendwie zur Vermittlung und Verbreitung der unveränderlichen christlich-katholischer Wahrheit beizutragen? Wie kann sich vor allem der sogenannte einfache Gläubige engagieren? 

Wahrscheinlich macht da den ersten Schritt eine gesunde und vernünftige Glaubenspraxis. Was man bewahren will, muss zunächst von der eigenen Person gekannt, geschätzt und vor allem gelebt werden! Das schließt aufrichtige Beschäftigung mit und lobenswerte Vertiefung in die einzelnen Glaubenswahrheiten ein. Nur dann wirkt man glaubwürdig und wird grundsätzlich befähigt, dasselbe auf eine möglichst überzeugende Weise auch zu vermitteln. Der eigene Glaubensernst bewirkt oft mehr als sogar manche wohlgemeinten Worte. Wie schon die ersten Christen in der apostolischen Zeit einen äußerst günstigen Eindruck auf ihre (unvoreingenommene) Umwelt hinterließen (vgl. Apg 2,47), so sollen auch wir dem Gebot Jesu Christi Folge leisten: „So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16)! 

Hier und da, bei einem mehr, beim anderen etwas weniger, wird sich dann auch mal eine günstige Gelegenheit ergeben, bei welcher man die eigenen Mitmenschen auf die stattgefundenen „Reformen“ wird aufmerksam machen und vielleicht sogar auch noch zum Nachdenken bewegen können. Ohne irgendwie im negativen Sinne aufdringlich zu wirken, sollte eigentlich jeder katholische Christ nicht nur den Glauben bekennen, sondern auch die ihm widerstreitenden Irrlehren klar beim Namen nennen. Denn die Wahrheit lehnt die Lüge entschieden ab! Ergänzt durch Gebet und eventuell durch Opferleistungen, die aus edler Gesinnung eines Jüngers Jesu Christi erwachsen, der uns zu Seiner Nachfolge berufen hat, wird man doch wenigstens bescheiden zur Verbreitung der göttlichen Wahrheit in der Welt beitragen können! 

 

P. Eugen Rissling


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