Kurze Messbetrachtung


34. Teil


19. Paternoster (Fortsetzung) 

n) Wenn man, wie in der fünften Bitte des Vaterunser, um die Vergebung der eigenen Schuld bittet, dann wird es dem Beter mit der Zeit ebenfalls umso bewusster, dass die Sünde zwar im Herzen des Menschen entsteht, dort gewissermaßen geboren wird, der Anlass dazu aber an den Menschen nicht selten auch von außen herantritt. Damit ist dadurch das gesamte Gebiet der Versuchbarkeit des Menschen, der Versuchung durch den Teufel angeschnitten und angesprochen.

Da ja dieser Widersacher Gottes nicht das ewige Heil des Menschen will, sondern sein Verderben, sucht er auch ständig, ihn zu Fall zu bringen, damit er dann seinen alten „Traum“ realisiere und sozusagen (endlich) über Gott triumphiere. Da er sich nicht gegen Gott im Himmel durchsetzen konnte und „von Michael und seinen Engeln ... auf die Erde gestürzt“ wurde (vgl. Offb 12,7-12), bemüht er sich nun verbissen, durch die Zufügung des Schadens an den unsterblichen Seelen, für die Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und Sein teures Blut vergossen hat, in gewissem Sinn indirekt und im nachhinein sowohl jenen moralischen Sieg Gottes „anzufechten“ als auch seine eigene Unterlegenheit zu „revidieren“. Und gerade die letzten Worte jener Stelle aus der Apokalypse, der Geheimen Offenbarung des hl. Apostels Johannes zeigen an, mit welcher Entschiedenheit und Entschlossenheit der Satan nun ans Werk geht: „Doch wehe der Erde und dem Meere! Denn der Teufel ist zu euch mit gewaltigem Grimm hinabgestiegen. Er weiß, wie kurz seine Frist ist.“

So erfahren wir es ja praktisch tagtäglich, wie die Versuchung an uns sowohl systematisch als auch schonungslos herantritt. Kaum passt der Mensch einen kurzen Augenblick nicht ganz genau auf, schon ist es passiert, dass er wenigstens einen Teil seiner Konzentration auf Gott verliert und sich dann in der Folge wegen der sittlichen Schwäche seiner Natur innerlich der Unsittlichkeit (welcher Art und in welchem Umfang auch immer) zuwendet. Dabei nutzt der Teufel, der ja ein Meister der Verführung ist, besonders unsere größten Schwachstellen aus, und zwar ziemlich brutal.

So ist der Mensch hier auf Erden, in diesem „Tal der Tränen“ (Salve Regina), ständig einem Kampf ausgesetzt und herausgefordert, sich unentwegt im Hinblick auf die christliche Moral zu entscheiden. Auch wenn diese Auseinandersetzung für uns ziemlich mühsam ist, wie wir es ja täglich sozusagen am eigenen Leib erfahren müssen, so beinhaltet sie dennoch unter anderem auch einige positive Elemente in sich. Denn auf diese Weise bleibt der Mensch andauern „in Übung“, „rostet“ gewissermaßen nicht ein und erhält sich, wenn es ihm wirklich ernst ist mit Gott und dem Streben nach der christlichen Vollkommenheit, in Analogie zu einem Sportler ein gewisses gesundes Maß an geistiger Fitness!

Zumal wir, da wir ja hier „unten“ in dieser Welt leben, kaum vor den im üblichen Sinn verstandenen „Versuchungen“ dieser Welt gänzlich bewahrt werden können. Sollen wir uns ja durch diesen geistigen Kampf auch bewähren, sollen wir ja durch diese Prüfung „auf Herz und Nieren“ heranreifen und -wachsen „zur Mannesreife, zum Vollmaß des Alters Christi“ (Eph 4,13). Wurde ja auch Jesus Christus einer dreifachen Versuchung durch den Teufel ausgesetzt (vgl. Mt 4,1-11), bevor Er Sein öffentliches Wirken als Lehrer, Arzt und Erlöser aufnahm. Wurde ja Sein Widersacher dadurch zurecht-, wurde ja der Teufel auf diese Weise eindrucksvoll in seine Schranken gewiesen!

Aber dennoch wissen wir, wie gefährdet wir sind, wie leicht wir der Versuchung nachgeben, wie bisweilen sogar gern wir ihr trotz aller gegenteiliger „offizieller“ Beschwörungen erliegen. Hier kommt halt ganz deutlich die sittliche Angeschlagenheit der menschlichen Natur durch die Erbsünde zum Vorschein. Verbreitet ja die Sünde, jede Sünde, und hier vor allem die Sünde Adams und Evas, ihr Unwesen!

Aber natürlich dürfen wir uns damit nicht billig ausreden, uns damit nicht abfinden, sondern sollten uns unbedingt aufraffen und diese Auseinandersetzung sowohl um der Liebe Christi als auch um unseres ewigen Heiles willen annehmen. Dabei sollen wir „durch heilbringende Anordnung gemahnt und durch göttliche Belehrung angeleitet“ (Missale unmittelbar vor dem Vaterunser) auch den Herrgott bitten, uns vor jeglicher Versuchung zu bewahren, der wir nicht gewachsen sind, die über unsere Kräfte gehen und uns das Verderben bringen würde: „Und führe uns nicht in Versuchung“!

Zumal ja auch kein Mensch im voraus wissen kann, ob er der einen oder der anderen Versuchung standhalten kann und dem Ansturm des Widersachers Gottes gewachsen ist. Mag man jetzt die Prüfung bestanden und sich heute vielleicht sogar mit Auszeichnung bewährt haben, schon im nächsten Augenblick und morgen kann man wieder stolpern und umfallen: „Wer also fest zu stehen glaubt, der sehe zu, dass er nicht falle“ (1 Kor,10,12).

Vor allem aber mögen wir bewahrt bleiben vor der Versuchung zum ganzheitlichen Abfall von Gott, vor der Versuchung zur absichtlichen und willentlichen Absage an Ihn und Sein heiliges Gebot! Wie es der Teufel bei Jesus versucht hat, so will er auch bei uns jetzt erreichen, dass wir letztendlich seine Satansherrschaft anstelle der Gottesherrschaft anerkennen! Hinter seinem ganzen bisweilen sogar fromm vorgespielten Gehabe verbirgt sich nur das eine Ziel der Beanspruchung der Stelle Gottes, mit seinem ganzen Getue will er schlussendlich nichts anderes erreichen, als dass man vor ihm niederfällt und ihn anbetet (vgl. Mt 4,9)!

So bitten wir den Herrgott inniglich, inständig und aufrichtig, vor dieser großen und sozusagen alles entscheidenden Versuchung verschont zu bleiben, um unter keinen Umständen zuzulassen, dass Gott in unserem Leben „ausgeschaltet“ werde und wir von Ihm (gänzlich) getrennt würden. Ausdrücklich mitberücksichtigt soll in dieser Bitte auch werden die Gefahr des Verlustes des (überlieferten) katholischen Glauben und der authentischen katholischen Morallehre, da wir ja leider durch viele traurige Beispiele aus unserer Umgebung Zeugen sind, wie verderblich und verheerend sich der modernistische Lüge auf die Frage nach der Gottesbeziehung und dem gesunden christlichen Glauben der Menschen auswirkt!

So leitet uns diese Bitte des Vaterunser dazu an, demütig und bescheiden zu bleiben, sich nicht in eigener Überheblichkeit zu viele Kräfte und Fähigkeiten zuzuschreiben oder zuzumuten, nicht vermessen zu werden. Mit einem gesunden und vernünftigen Blick die Gefahr sehend wendet man sich dann auch umso bewusster der Quelle des Heils zu, Dem, der uns in unserer Not tatsächlich retten und in unserer Bedrängnis wirklich nachhaltig helfen kann. So kann die Anfälligkeit des Menschen für die Versuchungen des Diabolos im nachhinein - macht man, wie das Sprichwort sagt, sozusagen aus der Not eine Tugend - sogar zu geistigen Nutzen desselben Menschen, zum Wachstum in und zur Vermehrung der Gnade Gottes gereichen.

„Sondern erlöse uns vor dem Übel.“ Dieser zweite Teil der sechsten Bitte des Vaterunser schließt dieses Herrengebet ab und fasst es in gewissem Sinne auch zusammen. Denn mit ihr wird die (zweite) Bitte, die Bitte um das Kommen des „Reiches“ Gottes, ergänzt. „Denn dieses Königtum ist deshalb noch nicht da oder weiter vorangekommen, weil die Macht des Bösen ihm entgegenarbeitet. Und es wird so bleiben, bis sie endgültig gebrochen ist. Es geht über unser Können hinaus, davon befreit zu werden; Gott allein vermag das“ (Trilling, W., Das Evangelium nach Matthäus. Patmos Verlag Düsseldorf 1962, 1. Teil, S. 150). Daher bitten wir auch den Herrgott ausdrücklich, uns von dieser Macht, der wir, armselige Geschöpfe Gottes, allein nicht gewachsen sind, zu befreien und sie eben vollständig und endgültig zu brechen!

So klingt das Gebet, das mit der Hinwendung an Gott als unseren „Vater“ so vertraut und licht angefangen hat, sehr ernst, ja geradezu dunkel aus. Uns soll niemals der notwendige Ernst ausgehen, von uns soll nie das Ineinander-Wirken verschiedener Faktoren auf Gottes weitem Erdkreis, das Gegeneinander-Wirken verschiedener Kräfte und Mächte außer Acht gelassen werden. Wer Gottes Kind sein will, muss auch wissen, dass er dann in gewissem Sinn auch den Ihm widerstrebenden Mächten der Finsternis ausgesetzt werde und auch und gerade angesichts ihrer vor dem Herrgott bestehen muss: „So werden alle, die in Christus Jesus fromm leben wollen, Verfolgung erleiden“ (1 Tim 3,12); „Der Jünger steht nicht über dem Meister und der Knecht nicht über seinem Herrn. [...] Hat man den Hausherrn Beelzebub geschmäht, um wieviel mehr seine Hausgenossen“ (Mt 10,24f.) Unsere Gottesfrömmigkeit soll eben nicht etwa mit kindischer Naivität gepaart sein, sondern von der Seriosität eines objektiven Beobachters der Gesamtrealität umrahmt werden!

Und mit dem „Amen“ (so soll es sein!) am Schluss des Herrengebetes unterstreichen wir auch beim Vollzug des Heiligen Messopfers alle Gebetsanliegen, die Jesus Christus uns mit diesem Vaterunser mitgeteilt und somit auch wärmstens ans Herz gelegt hat. Diese geheiligten Gebetsworte unseres göttlichen Erlösers mögen oft in unserem Herzen erwogen und in unserem Geiste betrachtet werden. Dann werden sie uns zur reichen Quelle heilsamer Anregungen in unserem Leben mit Gott werden. Auch unser sonstiges Beten und Bitten sollte ständig an diesem letztendlich wichtigsten Gebet der ganzen Christenheit gemessen werden.


P. Eugen Rissling


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