Kurze Meßbetrachtung
31. Teil
19. Paternoster (Fortsetzung)
e) Nachdem der Priester beim „Vaterunser-Gebet
auf die ausdrückliche Anordnung Christi hin zunächst um die Heiligung des
Namens Gottes und um das Kommen Seines Reiches gebetet hat, wird in der
nächsten (der dritten) Bitte die letztere (die zweite) Bitte gewissermaßen
fortgesetzt: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden“. Hier
wird jetzt nämlich gezeigt, wie die Bitte um „die Realisation des Willens
Gottes in unserer gegenwärtigen Welt“ („Beiträge“/52, S. 25) vom
vernünftigen Geschöpf Gottes konkret umgesetzt werden kann bzw. soll.
Da der Mensch grundsätzlich über einen freien
Willen verfügt, kann (nicht darf oder soll!) er sich willensmäßig auch gegen
Gott aussprechen, kann er sich gegen Gott wenden, was er leider auch nicht
selten tut. In diesem Fall kommt es bei ihm nicht zur Teilnahme an jenen
überirdischen Gütern, den himmlischen Erlösungsgnaden, die Christus uns
durch Sein Sühneleiden erschlossen hat. Denn die Übermittlung dieser
göttlichen Reichtümer geschieht grundsätzlich nur mittels der Zustimmung des
freien menschlichen Willens zum göttlichen Willen, nur durch die Anpassung
der menschlichen „Empfangsfrequenz“ an die „Sendefrequenz“ Gottes, um einmal
ein Bild aus der Funktechnik zu gebrauchen.
Erst dann, wenn ein Mensch seinen eigenen
Willen dem Willen Gottes angepasst, wenn er den göttlichen Willen zu seinem
eigenen gemacht hat, gelingt es ihm, dazu beizutragen, dass „Dein Reich“
(dessen Eigenschaften und geistige Früchte ja Güte, Liebe und Gerechtigkeit
sind), wirklich und konkret „zu uns komme“, dass diese irdische Welt umso
mehr von der hier definierten Art der Gegenwart Gottes erfüllt werde. Diese
Übernahme des Willens Gottes ist in gewissem Sinn eine Brücke, mittels
welcher erst bei uns, den Menschen, die lebendige Verbindung mit Gott
entstehen und jeweils weiter ausgebaut werden kann: „Wer Mich liebt, wird
Mein Wort bewahren; Mein Vater wird ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen
und Wohnung bei ihm nehmen. Wer mich nicht liebt, bewahrt Meine Worte nicht“
(Joh 14,23f.); „Nicht jeder, der zu Mir sagt: Herr, Herr!, wird in das
Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen Meines Vaters tut, Der im
Himmel ist“ (Mt 7,21)!
Daher betet ein Christ an dieser Stelle des Vaterunser, dass das „Reich“
Gottes in dieser Welt gerade durch diese eben beschriebene Realisation des
göttlichen Willens seitens des Menschen sowohl zu seiner äußeren Verbreitung
als auch zu seiner inhaltlichen Vermehrung und Intensivierung komme. Ihm ist
es eben nicht gleichgültig, ob der „Name“ Gottes „geheiligt“, ob Sein „Reich
zu uns komme“ oder nicht. Deshalb ist es sein inständiger Wunsch (und Inhalt
seines Gebetes!), dass der Wille Gottes von den Menschen unbedingt befolgt
und praktisch umgesetzt werde.
Dabei ist es äußerst wichtig zu berücksichtigen, dass Gott sich wesentlich
von einem jedweden menschlichen Herrscher oder Befehlsgeber unterscheidet.
Da der Mensch ein Sünder ist, ist bei seinen Entscheidungen, die ja oft
genug auch andere Menschen betreffen, im Prinzip immer die Gefahr entweder
eines unbeabsichtigten Irrtums oder sogar auch eines willentlichen
Abweichens von der göttlichen Sittlichkeit gegeben. Bei Gott dagegen kann
weder ein Irrtum jemals vorliegen noch kann bei Ihm die Möglichkeit einer
sittlichen Willkür angenommen werden. Sein Wille ist durch und durch gut, er
ist ohne einen geringsten Schatten an sittlicher Schlechtigkeit geschweige
denn Bosheit - Gott ist sittlich vollkommen, Sein Wille ist heilig!
Da aber dem christlichen Beter, wie eben dargelegt, die sittliche Schwäche
und Gebrechlichkeit des menschlichen Willens bekannt ist, welche er ja auch
selber täglich erfährt, so ist bei ihm in diesem Gebetsruf des Vaterunser
ganz ausdrücklich auch die Bitte um den Gnadenbeistand Gottes, um die
Erleuchtung und Stärkung des menschlichen Willens zum Zweck einer positiven
Entscheidung im Sinne Gottes enthalten. Wir wissen ja, auf uns allein
gestellt vermögen wir nichts: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5),
mit Hilfe der Gnade Gottes sind wir dagegen wenigstens zu einigem in der
Lage, auch wenn wir es nicht mit dem hl. Apostel Paulus aufnehmen können,
der sagte: „Alles vermag ich in Dem, Der mich stärkt“, Phil 4,13)!
Die Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden“,
erinnert uns aber auch an die Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen,
die wir mit unserer Willenfreiheit besitzen! Sind ja die gefallenen Engel
nach der christlichen Tradition (unter Anspielung auf die Stelle bei Tobias
4,14: „Denn mit ihm [dem Stolz - Anm.] hat alles Übel seinen Anfang
genommen“) gerade durch die Sünde des Stolzes, des Nicht-Dienen-Wollens, des
Ungehorsams Gott gegenüber ihres „Platzes im Himmel“ verlustig gegangen und
daraufhin „auf die Erde gestürzt“ worden (vgl. Offb 12,7-9). Dort dürfen sie
sich ja nicht nur nicht mehr der zuvor bestehenden beseligenden Anschauung
Gottes erfreuen, sondern sie richten auch fortwährend einen großen Schaden
für die Menschheit an (vgl. Offb 12,13-17).
So fügen wir nicht nur unserer eigenen Seele einen oft kaum mehr zu
behebenden Schaden (vor allem im Hinblick auf die Ewigkeit) an, wenn wir uns
gegen den Willen Gottes auflehnen, ihn nicht erfüllen sollten - wenn wir
eben sündigen wollten. Nein, wir torpedieren dann zugleich nicht selten auch
die Bemühungen Gottes im Hinblick auf unsere Mitmenschen und richten ihnen
dadurch ebenfalls einen großen Schaden an! Nicht umsonst warnt uns Jesus
ganz eindringlich vor Ärgernissen: „Wer einem von diesen Kleinen, die an
Mich glauben, Anlass zur Sünde gibt, für den wäre es besser, dass ihm ein
Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres gesenkt würde.
Wehe der Welt um der Ärgernisse willen! Es müssen zwar Ärgernisse kommen;
doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!“ (Mt 18,6f.)
Wie viel furchtbares Elend ist denn nicht bereits über die Menschheit durch
die von den Menschen aneinander mutwillig begangenen Bosheiten und
Verbrechen hereingebrochen? Welche katastrophale Folgen ergeben sich denn
nicht durch das willentliche Nichtbefolgen des göttlichen Willen, durch die
bewusste Lossagung des Menschen von Gott? Unsere Menschheitsgeschichte kennt
mehr als genug schreckliche Beispiele hierfür.
Daher wollen wir uns umso intensiver auf die Befolgung des heiligen Willens
Gottes besinnen, umso energischer alle uns zur Verfügung stehenden
sittlichen Kräfte mobilisieren, umso entschlossener Seine sittlichen
Forderungen in unserem eigenen Entscheidungsbereich umsetzen. Dann tragen
wir zwar ganz bescheiden, aber dennoch wirklich zum Kommen Seines „Reiches“,
zur Verwirklichung Seines heiligen Willens bei.
Wo wir aber keinen Einfluss auf das (Welt)Geschehen haben, wo wir machtlos
dem bösen Treiben nicht weniger unserer Zeitgenossen zuschauen müssen, da
wollen wir uns ebenfalls dem Gebet der Kirche anschließen, welche auf den
Geheiß des Herrn selbst hin sowohl in ihrer Liturgie als auch durch das
Gebetsflehen so vieler ihrer Glieder, der Glieder am mystischen Leib
Christi, praktisch unaufhörlich zum Herrn ruft: „Vater unser, der Du bist im
Himmel, geheiligt werde Dein Name; zu uns komme Dein Reich; Dein Wille
geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden“!
Und wie Gott sich im Himmel „durchgesetzt“ und gegen Luzifer behauptet hat
(„Da erhob sich ein großer Kampf im Himmel. Michael und seine Engel kämpften
mit dem Drachen, und der Drache und seine Engel kämpften. Aber sie
vermochten nicht standzuhalten, und ihr Platz im Himmel ging verloren“, Offb
12,7f.), so mögen auch heute alle Seine Feinde „zuschanden werden“ (vgl. Is
1,29), so möge auch heute sowohl allerorts als auch bei allen Menschen der
heilige Wille Gottes unbedingte Priorität genießen, so möge auch heute Seine
Kirche überall auf der Welt blühen, wachsen und gedeihen, damit eben Sein
heilspendender „Name geheiligt“ und zu uns Sein beseligendes „Reich komme“!
P. Eugen Rissling
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