Das Heiligtum des Neuen Bundes


In der heutigen Zeit sind viele Klagen über die mißlungene Liturgiereform zu hören, die im Anschluß an das Vatikanum II. stattgefunden hat. Auch Gläubige, die noch zur Amtskirche gehören, aber ein gesundes Bewußtsein des Heiligen bewahren konnten, sind vielfach unzufrieden mit den sich negativ auswirkenden Änderungen in der Liturgie, die der Mehrheit des katholischen Volkes letztendlich ohne dessen Zustimmung aufgezwungen wurden. Diese katholischen Christen vermissen schmerzlich den Bereich des Göttlichen und Sakralen in der modernen „Eucharistiefeier“ und leiden auch unter dieser Entstellung der Messe. Sogar Menschen, die der Kirche fern stehen, merken bisweilen die enorme Verflachung und Banalisierung dieser „Eucharistiefeier“, die mehr (horizontal) auf die Menschen als (vertikal) auf den Herrgott ausgerichtet ist. 

Wir hatten in unserer Artikelreihe “Liturgisches” bei der Erklärung des Wesens der katholischen Liturgie immer wieder in Zusammenhängen auf die dogmatischen Änderungen in der Meßtheologie und in der liturgischen Praxis der offiziellen „Kirche“ hingewiesen. Heute wollen wir auf einen bestimmten Punkt zu sprechen kommen, der ebenfalls im Zusammenhang der Liturgie steht und dessen Bedeutung vielleicht nicht jedem sofort bewußt wird. Es handelt sich dabei um die Stille während der Heiligen Messe. Als eine der größten „Errungenschaften“ der Liturgiereform wird das laute Sprechen der meisten Texte der „Neuen Messe“ durch den Zelebranten angepriesen. Früher hätten die Gläubigen ja kaum etwas von der Messe verstanden, da doch die Priester ab der Opferung die überwiegenden Teile der Heiligen Messe, zumal den Kanon, leise gebetet haben, und zudem noch in Latein. Dadurch sei doch keine würdige Feier der Liturgie möglich gewesen. Jetzt aber, wo jeder Kirchenbesucher alles (in der Landessprache) akustisch mitbekomme, was sich im Altarraum abspielt, sei die Möglichkeit zu einer aktiven (bzw. aktiveren) Teilnahme des Kirchenvolkes an der Liturgie gegeben. 

Um die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der Anordnung der Kirche, viele Teile der Heiligen Messe durch den zelebrierenden Priester leise beten zu lassen, zu beantworten, möchten wir an die alttestamentarischen Vorschriften für den Tempeldienst verweisen. Der Tempel zu Jerusalem war ein heiliger Ort, ausgezeichnet durch die Gegenwart Gottes im Allerheiligsten. Nur die Priester (Stamm Aaron) und die Leviten (Stamm Levi) hatten als geweihte Altardiener Zugang zum Inneren des Heiligtums. Selbst die männlichen Israeliten befanden sich nur im Vorhof des Tempels: „Kein Unbefugter darf zu euch herantreten“ (vgl. Nm 18,1-7)! (Das Recht, das Allerheiligste des Tempels einmal im Jahr mit dem Blut des Opfertieres zu betreten, besaß übrigens nur der Hohepriester.) Als Moses die Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch erlebte, hörte er den Herrn sprechen: „´Tritt nicht näher heran! Ziehe die Schuhe von den Füßen! Denn der Ort, an dem du stehst, ist heiliger Boden.´... Da verhüllte Moses sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“ (Ex 3,5f.). 

Durch diese klare Abgrenzung im Inneren des Tempelbereiches ist sowohl die Erhabenheit des Ortes (des Tempels) als auch die priesterliche Würde der Söhne Aarons unterstrichen worden, denn nur sie waren bevollmächtigt, das Opfer darzubringen. Nicht weil sie als Privatpersonen besser oder bedeutsamer als die anderen Israeliten gewesen wären, sind sie so ausgezeichnet worden, sondern nur wegen der Heiligkeit ihres sakralen Dienstes, den zu verrichten allein sie von Gott beauftragt wurden: „Ein freies Geschenk ist der Priesterdienst, den Ich euch übergab“ (Nm 18,7). Wenn wir unbefangen die entsprechenden Texte des Alten (und teilweise auch des Neuen) Testamentes über den Tempeldienst lesen, können wir in etwa verstehen, warum die Israeliten einen großen Stolz auf ihren Tempelkult empfunden haben: „Ich freute mich, als man mir sagte: ´Wir wallen zum Hause des Herrn´“ (Ps 121,1), „Zum Altare Gottes will ich treten, zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf“ (Ps 42,4). Da der Tempeldienst aber trotz seines relativen Glanzes „nicht die Kraft hatte, den Opfernden im Gewissen vollkommen zu machen“ (Hebr 9,9), war er nur ein „Abbild und Schatten des himmlischen Heiligtums“ (Hebr 8,5). Erst das „Blut Christi“ kann unser „Gewissen von toten Werken reinigen, um dem lebendigen Gott zu dienen“ (Hebr 9,14). 

Weil im Neuen Bund das wahre Lamm Gottes geschlachtet wird, sind hier sowohl das kultische Opfer als auch die priesterliche Würde wesentlich erhabener! Hat uns schon die Beschreibung der alttestamentarischen kultischen Einrichtungen gewisse berechtigte Achtung eingeflößt, um wie viel mehr müssen wir in Ehrfurcht vor dem Bundesopfer Jesu Christi durchdrungen sein, das täglich zu unserem Heil auf den Altären der Kirche dargebracht wird! Deshalb darf auch bei uns der Altarraum unter keinen Umständen zur Durchgangsstation für jedermann werden. Nicht umsonst ist er in katholischen Kirchen (u. a. auch durch die Kommunionbank) vom übrigen Kirchenraum abgesondert. So betet die Kirche in einem der Responsorien vom Kirchweihfest: „locus iste sanctus est in quo orat sacerdos - heilig ist dieser Ort, wo der Priester betet“! Wenn die Kirchen (die Kirchenräume) - allgemein gesprochen - bewußt oder unbewußt z.B. zu Konzertsälen oder Touristenattraktionen umgestaltet werden, dann widerspricht dies gröbstens deren ursprünglichem Zweck! Und eben wegen dieser Ehrfurcht vor Gott und wegen der Erhabenheit des christlichen Gottesdienstes betet die katholische Kirche die meisten Opfergebete ihrer Liturgie leise, den Kanon inbegriffen. Diese Worte sind heilige Worte, die vor der Alltäglichkeit und der Profanierung unbedingt zu schützen sind! In den ersten Jahrhunderten herrschte in der Kirche zu diesem Zweck die Arkandisziplin, eine „altchristliche Sitte, über gewisse kultische Handlungen, wie Taufe und Eucharistie, vor Ungetauften Schweigen zu bewahren oder nur in dunklen Andeutungen zu sprechen. (...) Es war daher den Eingeweihten untersagt, von den Geheimnissen zu sprechen. (...) Verletzung des Schweigegebotes war als Gottesfrevel strafbar“ (LThK, Herder 1957, Band I, Sp.863). Selbst das Vaterunser, das Gebet des Herrn, bekamen die Täuflinge teilweise erst einige Tage vor ihrer Taufe zu hören, um es auswendig zu lernen. 

Diese Arkandisziplin ist in der Kirche verloren gegangen. Heute darf jeder auch beim eucharistischen Teil der Liturgie anwesend sein (was früher den Nichtgetauften verwehrt wurde), niemand mehr muß nach dem Evangelium bzw. nach der Predigt den Kirchenraum verlassen. Es wird in der Kirche weit und breit über die göttlichen Geheimnisse gesprochen und gepredigt. Die Römische Liturgie kennt auch keine Versperrung der Sicht zum Altarraum wie im Tempel zu Jerusalem (oder in einigen östlichen Liturgien). Statt dessen setzte sich bei uns mit der Zeit das stille Beten wichtiger liturgischer Texte (und die liturgische Sprache) durch, wodurch das Heiligtum der Heiligen Messe sowohl hervorgehoben als auch geschützt werden sollte! Es ist eine gesunde und verständliche Reaktion der Kirche auf das Verschwinden der Arkandisziplin zum Schutz des reinen Opfers. Nicht nur werden die liturgischen Handlungen ausschließlich von den bevollmächtigten Dienern Christi vollzogen - wie seit eh und je -, auch ein Großteil der entsprechenden Gebetstexte wird nur für sie (akustisch) vernehmbar verrichtet. Ebenfalls soll das stille Beten der Opfergebete die besondere sakrale Würde des Priesters unterstreichen, der kraft seiner Weihe allein befähigt ist, das Heilige Opfer liturgisch zu vollziehen. Zwar soll es zum Heil der ganzen Kirche dargebracht werden, aber nur er handelt in der Person Christi. 

Die Stille während der Heiligen Messe soll neben dem Zelebranten auch allen anwesenden Gläubigen zur besseren inneren Sammlung dienen. Die meisten von uns haben u.a. auch ihre eigene liturgische Spiritualität: der eine feiert das Heilige Meßopfer am besten mit Hilfe einer der vielen früher weit verbreiteten schönen Meßbetrachtungen mit, ein anderer betet während der Messe z.B. den schmerzhaften Rosenkranz (der ja die Geheimnisse unserer Erlösung enthält) und vereinigt sich so mit dem leidenden Christus, ein dritter opfert sich für ihn am fruchtbarsten in einer wortlosen Zwiesprache zusammen mit Christus auf usw. Jeder kann in einer ihm am meisten zusagenden Weise zur (größeren) Andacht vor Gott gelangen. 

Dadurch wird auch der Gefahr des geistigen Uniformismus vorgebeugt, den wir in der Politik aus den totalitären Regimen kennen. Immer wieder beklagen sich die Teilnehmer an den modernen „Eucharistiefeiern“ über das Fehlen eines gesunden Freiraumes für ein persönliches, individuelles Gebet - alles wird schon vorgeformt und - um bildlich zu sprechen - vorgekaut. Das Widersprüchliche und Paradoxe daran ist, daß die moderne „katholische“ Amtskirche dagegen den dogmatischen Pluralismus, wodurch der christliche Glaube seinem Wesen nach zersetzt wird, nicht nur schweigend duldet, sondern viel zu oft auch selbst aktiv betreibt. Zur gleichen Zeit wird dem Uniformismus, den sie angeblich bekämpfen möchte, und der Gleichmacherei in der Art der persönlichen Hinwendung zu Gott im Gegensatz zu früheren Zeiten (vor den sogenannten „Reformen“) massiv Vorschub geleistet! Spricht das nicht Bände? 

Der Zelebrant der sogenannten „Neuen Messe“ bestimmt nun (wissentlich oder unwissentlich) die Art und Weise dieser persönlichen Hinwendung der Gläubigen zu Gott und verhindert durch sein fast ununterbrochenes lautes Sprechen nicht nur das individuelle Gebet der Gemeinde, sondern hemmt auch das Entwickeln einer gesunden geistigen Aktivität der Gläubigen. Wenn jeder Satz den nächsten jagt und ich keine Zeit und Ruhe zur Betrachtung, zum Nachdenken über das Gehörte habe, kann von mir folglich auch keine entsprechende Mobilisierung meiner geistigen Kräfte erwartet werden! Fehlt aber die Innerlichkeit, wird in der Regel der Versuch unternommen, sie durch gesteigerte äußerliche Aktivitäten „auszugleichen“. Beispiele dafür kennen wir alle. Ist denn die abnehmende Achtung vor der Liturgie insgesamt und das zunehmende Desinteresse an ihr nicht eine Folge dieser negativen Entwicklung? 

Mit der Einführung des lauten Sprechens und der somit verbundenen weitgehenden Verbannung der Stille aus der Liturgie ist keinesfalls ein besseres Verständnis der Liturgie erreicht worden, was häufig von den „Reformern“ vorgegeben wurde. Zwar wird heute den Besuchern des „Novus Ordo Missae“ in akustischer Weise alles verständlich gemacht, zwar vernehmen sie mehr gesprochene Worte als je zuvor, zur gleichen Zeit aber schwindet zunehmend der gesunde Sinn für die Liturgie. Denn „mehr“ bedeutet nicht unbedingt „besser“! Die besondere sakrale Atmosphäre dagegen, die in der Liturgie u. a. auch durch die Stille - der liturgische Gesang besitzt ebenfalls einen tiefen Sinn und Bedeutung - und die lateinische Sprache entsteht, ist im Ritus Pauls VI. zerstört worden. Der Schuß ist nach hinten losgegangen, weil man „vergessen“ hatte, daß die wahre katholische Liturgie ihre Grundausrichtung nur auf Gott haben kann und nicht auf die Gemeinde! Die Liturgie dient in erster Linie der Verehrung Gottes, da muß von uns als einzelnen nicht unbedingt jedes Wort akustisch genau verstanden werden. Das Entscheidende ist, daß uns der tiefe Sinn der Liturgie aufgeht, und daß wir verstehen, wie das Heilige Meßopfer von uns zur Ehre Gottes und zu unserem Heil gelebt und mitgefeiert werden will! 

 

P. Eugen Rissling



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