Die Lauretanische Litanei

Das berühmteste Marienheiligtum auf italienischem Boden befindet sich in Loreto. Seit dem Mittelalter pilgern dorthin ungezählte Menschen. Päpste und Bischöfe sind darunter, Kaiser und Könige und auch manche aus der Zahl der Heiligen. Dort beteten beispielsweise, um nur einige wenige zu nennen, Ignatius von Loyola, Franz Xaver, Aloysius, Carl Borromeo und Alfons von Liguori.

Zu Beginn des Jahres 1558 langte eines Tages in Loreto ein Pilger aus dem Norden an. 1520 war er als Bürgermeisterssohn zu Nimwegen im Gelderland geboren. Peter Hondt hieß er. Unter diesem ursprünglichen Namen kennt ihn heute allerdings kaum einer. Trotzdem ist er kein Unbekannter. Damals kam nämlich unter den Gelehrten der Brauch auf, ihren deutschen Namen der lateinischen Sprachart anzugleichen. Wer Schmied hieß, nannte sich seitdem Faber. Aus Becker wurde ein Pistorius, aus Richter Prätorius. Geradeso machte es auch Peter Hondt. Hondt ist das niederdeutsche Wort für Hund, und Hund heißt auf lateinisch Canis. Deswegen nannte er sich Peter Canis oder Petrus Canisius. Er ist der zweite Apostel Deutschlands, denn zu seiner Zeit waren Deutschlands Einwohner zu neun Zehntel protestantisch, und dass die Katholiken heute wieder mehr als ein Drittel (Anm.: nominell inzwischen die Hälfte) der deutschen Bevölkerung ausmachen, ist nicht zuletzt das Werk des ersten deutschen Jesuiten, des heiligen Petrus Canisius.

Im Jahre 1558 kam also, wie bereits erwähnt, der heilige Petrus Canisius in Loreto an. Ordensangelegenheiten hatten ihn nach Rom gerufen. Es war eine beschwerliche Reise, denn bei den damaligen Verkehrsverhältnissen musste der Weg größtenteils zu Fuß zurückgelegt werden, auf schlechten Straßen und über die Alpen. Trotzdem nahm Canisius dazu auch noch den weiten Umweg über Loreto in Kauf, um der Gottesmutter in ihrem Heiligtum das bedrängte Herz auszuschütten und um für Deutschland zu beten. Zeitvergessen kniete da der Heilige im inbrünstigen Gebet. Stunde um Stunde verrann, Canisius beachtete es nicht. Der Abend brach an, und Canisius betete immer noch, so tief und selbstverloren, dass er nicht merkte, wie sich das Heiligtum fast zur halben Nacht noch einmal mit Betern füllte.

Ein Lied wurde angestimmt, das dem Pilger aus dem Norden unbekannt war und das ihn aufhorchen ließ. Welch ein Preisgesang war das doch auf die Hochgebenedeite! In immer neuen Lobpreisungen, von denen eine herrlicher als die andere klang, schwang sich der Gesang empor zur Mutter unseres Herrn, und nach jeder Anrufung fiel das Volk mit dem Flehruf "Bitte für uns" in das Lied der Vorsänger ein: Mutter Christi! Mutter der göttlichen Gnade! Reine, keusche, unversehrte, unbefleckte Mutter! Liebenswürdige, wunderbare Mutter! Mutter des guten Rates! Mutter des Schöpfers! Mutter des Erlösers! Hingerissen lauscht der nordische Pilger diesem Preisgesang auf die Mutter Maria, aber das Lied geht weiter, und von der Mutter Maria wendet es sich an die Jungfrau Maria: Weise Jungfrau! Ehrwürdige, lobwürdige Jungfrau! Mächtige, gütige, getreue Jungfrau!

"Wie schön das ist!", murmelt Canisius vor sich hin. Doch es wird noch herrlicher, da eben jetzt die Sänger Mariens Hoheit in Bildern und Gleichnissen preisen: Spiegel der Gerechtigkeit! Sitz der Weisheit! Ursache unserer Freude! Geistliches, ehrwürdiges Gefäß! Vortreffliches Gefäß der Andacht! Geheimnisvolle Rose! Turm Davids! Elfenbeinerner Turm! Goldenes Haus! Arche des Bundes! Pforte des Himmels! Morgenstern!

Wie dürres Land den Regen, so nimmt das Herz des Pilgers das herrliche Lob der himmlischen Mutter in sich auf, und die Begeisterung packt ihn erst recht, da das Lied nun die Bindungen und Verbindungen aufdeckt, welche die Mutter unseres Herrn mit der streitenden Kirche auf Erden verknüpft: Heil der Kranken! Zuflucht der Sünder! Trösterin der Betrübten! Hilfe der Christen!

Schön ist das! Kann es noch schöner werden? Das kann es, denn da öffnet sich der Himmel, und in Glanz und Hoheit tritt Maria als die Königin hervor: Königin der Engel! Königin der Patriarchen, der Propheten und Apostel! Königin der Martyrer, Bekenner und Jungfrauen! Königin aller Heiligen! Da ist mit diesem letzten Jubelruf das Lied zu Ende, denn die weiteren Anrufungen, wie wir sie heute beten, sind erst später aufgekommen. Canisius aber hat damals, am gleichen Abend noch, diesen Lobgesang auf Mariens Herrlichkeit, den man nach dem Ursprungsort Loreto die Lauretanische Litanei nennt und den man bis zu der Zeit in Deutschland noch nicht kannte, aufgezeichnet, und als er von Rom heimkehrte, hat er das Lied im selben Jahr 1558 zu Dillingen an der Donau erstmals auf deutschem Boden in Druck gegeben.

Seitdem, seit vierhundert Jahren, wird auch im Norden Europas, Tausenden zur Herzensfreude, die Lauretanische Litanei gebetet und gesungen, und auch wir wollen das in Zukunft um so lieber tun, da wir nun den Ursprung und die Geschichte dieses schönen Marienliedes kennen. Wir wollen es tun, "damit wir", wie es am Schluss heißt, "uns der beständigen Wohlfahrt der Seele und des Leibes erfreuen und auf die glorreiche Fürsprache der seligen, allzeit jungfräulichen Mutter Maria von der gegenwärtigen Trübsal befreit und der ewigen Freude teilhaftig werden, durch Christus, unseren Herrn".

(Aus: Quardt, P. Robert, Maria Maienkönigin, Lins-Verlag, Feldkirch 1961, S. 21ff.)

 

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