Die sogenannte „historisch-kritische“ Exegese – eine kritische Auseinandersetzung

Für wen halten die Menschen den Menschensohn? - Ihr aber, für wen haltet ihr mich? (Mt. 16,13)
Die ganze Geschichte des Christentums ist wie ein Echo auf diese Frage Jesu, und Jesus selbst richtet diese Frage an jeden einzelnen von uns.

Für jeden ist sie eine Herausforderung, und im Angesicht der Wahrheit muß die Antwort im Leben immer wieder neu gelebt und vollzogen werden. Leider erscheint vielen - auch “gläubigen” - Zeitgenossen eine freudige und überzeugte Antwort auf diese Frage bisweilen nicht mehr leicht. Es wird heute oft so getan, als ob nicht die Evangelien, sondern erst die moderne “Wissenschaft” uns das wahre Bild von Jesus vermitteln könnte. Da werden die Evangelisten zu Schwärmern, die aus “österlicher Begeisterung” allerlei Phantastisches über ihren Jesus erdichtet haben. Da ist dann Jesus auch nicht mehr in Bethlehem geboren, sondern in Nazaret, er hat selbstverständlich keine Wunder gewirkt und auch das Grab ist am Ostermorgen nicht leer gewesen. All das erscheint dem modernen “Gläubigen” unglaublich! Und so verkündet man ein neues Evangelium: Das sind nur “Ausdrucksweisen” der damaligen Zeit, um der Jesus-Erfahrung und Begeisterung Ausdruck zu verschaffen!

Woher denn die Jünger die Begeisterung geschöpft haben und woher die “Wissenschaft” denn alles noch besser weiß als die Apostel und Zeitzeugen selber, - um diese Antworten drückt man sich gerne. Der Glaube an Jesus Christus wird - ohne daß dies den meisten recht bewußt wird - durch einen unkritischen und subjektiven Glauben an den jeweiligen letzten Stand der “Wissenschaft” ersetzt. An die Stelle der Glaubensaussagen und des übernatürlichen Glaubensvollzugs werden “Dogmen” menschlicher Weisheit gesetzt, die auf keinen Fall angezweifelt werden dürfen (jedenfalls bis zur nächsten “Erkenntnis”).

Es ist nicht unsere Aufgabe, alle möglichen Meinungen zu Jesus Christus und Seinem Evangelium zu diskutieren. Um Jesu Botschaft zu verstehen, ist es vor allem wichtig, daß wir auf Ihn und die Zeugen Seines Lebens selbst hören. Dennoch wollen wir beispielhaft und in Kürze einmal auf bestimmte Thesen eingehen, denen wir heute immer wieder begegnen und die das Evangelium nach je letzten “Erkenntnissen” neu um-schreiben wollen. Welche unkritisch übernommenen Vorurteile und welch unhinterfragte “Glaubenssätze” hinter scheinbar so kritischen und objektiven Schrifterklärungen stehen, muß ernst genommen und überdacht werden. Meist gehen sie unausgesprochen davon aus, daß es eigentlich gar nicht Gott war, der sich uns da geoffenbart hat und daß Korrekturen durch menschliche “Weisheit” deshalb unerlässlich sind.

Den Anstoß für diese Zeilen gab eine Dia-Tonbildreihe der Steyler Missionare, die unter der Regie von Johannes Rzitka und mit theologischer Beratung von Prof. Dr. Josef Finkenzeller im Jahre 1979 (steyl-medien, Cimbernstraße 102, München) produziert worden ist und durch welche man eigentlich eine Hilfe und Hinführung zum Glauben an Jesus erhofft. Nach eigenem Bekunden versucht diese Serie “auf den Spuren der Bibel Jesus näherzukommen” und “den Glauben an ‘Jesus, unseren Christus’ zu vertiefen” (Beiheft S. 4). Gelingt dies? Wohl kaum! Ein falsches Bild von “Wissenschaftlichkeit” verhindert letztlich einen lebensnahen Bezug zu Jesus Christus. In diesem Tonbild wird auf die Frage: “Haben wir zuverlässige Nachrichten über Jesus von Nazaret?” (A.a.O., S.16), lapidar und ohne nähere Unterscheidung geantwortet: “Geschichtliche Quellen im wissenschaftlichen Sinne gibt es über das Leben und Werk Jesu nicht, weder im griechisch-römischen noch im jüdischen Kulturraum” (A.a.O., S.16). Denn: “Alles, was die Evangelien über Jesus, über seine Worte, seine Taten und über sein Geschick erzählen, sind nicht in erster Linie Schilderungen von historischen Ereignissen, sondern es sind Zusammenfassungen der Glaubensverkündigung in der Urgemeinde” (a.a.O., S.18). Folglich muß die Wissenschaft, “in oft mühsamer Arbeit das freilegen, was die Evangelisten an historischen Tatsachen und Anhaltspunkten über den Lebensweg Jesu mit ihrem Glaubenszeugnis verflochten haben” (a.a.O., S.18).

Das klingt zunächst sehr interessant: Ohne wissenschaftlich Quellen kann die Wissenschaft all das freilegen und verkünden?

Es stellt sich die berechtigte Frage: Was versteht man denn unter “geschichtlichen Quellen”? Wissen wir über Jesus weniger Bescheid als über Sokrates? Wie ist das mit den anderen “geschichtlichen” Personen, mit denen sich die Wissenschaft auseinandersetzen muß? Gibt es Persönlichkeiten des Altertums, die durch Augen- und Ohrenzeugen so umfassend und glaubwürdig bezeugt worden sind wie Jesus Christus? 

Zum zweiten: Nach welchen Kriterien legt man hier die “historischen Tatsachen” frei? Handelt es sich hier um eine “wissenschaftliche” Frage oder nur um eine Frage des jeweiligen Geschmacks und der Mode?

Eine wichtige und klärende Bemerkung folgt im Text jedoch schon wenig später. Nun wird gesagt: Jesus “starb nach den Berechnungen der Historiker am Passah-Fest des Jahres 27" (a.a.O., S.22).
Da fragt sich natürlich der Gläubige: Wenn es keine geschichtlichen Quellen im wissenschaftlichen Sinn gibt, wie wollen die Historiker dann etwas “berechnen” können? Mit welchem Recht beansprucht die Wissenschaft für sich eine bessere “Kenntnis” des Lebens Jesu als die Urkirche und die Zeitgenossen Jesu? Darf man denn den Aposteln und Evangelisten, die ja für die Wahrheit ihrer Verkündigung sogar ihr eigenes Leben hinzugeben bereit waren, so ohne weiteres unterstellen, es sei ihnen darum gegangen, bloße Erdichtungen als “Wahrheit” zu “verkaufen”, so daß es ihnen auf willkürliche Hinzufügungen praktisch gar nicht angekommen wäre? Wenn man den Evangelisten allzu leichtfertig und großzügig unterstellt, sie hätten die Wahrheit mit ihrem Glauben “vermischt”, so stellt sich doch noch viel mehr die Frage: Wer schützt uns davor, daß die “Wissenschaft” das Evangelium mit bloßen “Meinungen” und ihrem (eigenen, entgegengesetzten) “Glaubenszeugnis” vermischt? Wissen manche Wissenschaftler heute besser als die Zeitgenossen Jesu, was sich damals zugetragen hat? Und könnten sie das wirklich auch mit ihrem Blut bezeugen?

Wie leichtfertig und willkürlich mit den Aussagen der Evangelisten umgegangen wird, zeigen folgende Zitate: “Der Geburtsort Jesu ist wahrscheinlich das Dorf Nazaret in Galiläa” (a.a.O., S.23). Matthäus und Lukas überliefern uns aber eindeutig Bethlehem als Ort Seiner Geburt (Mt.2,1ff.; Lk.2,4ff.)!? Sollen wir jetzt plötzlich den Evangelisten misstrauen, aber neuen Theorien blind glauben? Und wie weit soll dieser neue Glaube gehen?

Dass es eine Steuerschätzung oder Volkszählung zu jener Zeit nicht gegeben haben kann, weil wir bis jetzt kein anderes Dokument darüber gefunden haben, und “daß der Evangelist sie für die Zeit der Geburt Jesu ansetzte”, weil der Messias ein Nachkomme des Königs David sein sollte, “dessen Familie ... ihre Heimat in Bethlehem hatte” (a.a.O., S.23), scheint nach der genannten Darstellung selbstverständlich. Und dass auch “Wunder” mehr ein Produkt eines anderen “Wunderbegriffs” der Zeitgenossen Jesu (vgl. a.a.O., S. 37) oder des “österlichen Christusglaubens” (vgl. a.a.O., S.38) der ersten Christen sind als reale Ereignisse, wird ebenfalls verschlüsselt nahe gelegt, ja es wird gesagt: “Die Evangelisten schreiben nie exakt” und sind “am tatsächlichen Hergang ... nicht interessiert” (a.a.O., S. 40). Das sind saloppe Formulierungen, die aber den wahren Absichten der Evangelisten nicht gerecht werden. Wenig später heißt es: “Von Jesus wird berichtet, er habe Dämonen ausgetrieben. Wir glauben nicht mehr an die Existenz von Dämonen” (a.a.O., S.41).

Zwar ist der beigefügte Hinweis richtig, daß es Jesus um den Glauben und nicht um Magie geht. Das ist sogar eine ganz wichtige Unterscheidung. Jedoch alles in allem wird sich ein kritischer Hörer fragen: Erscheinen alle diese “Glaubensurteile”, die dem überlieferten Glauben ohne klare Begründung und ohne weitere Frage nach Bewährung bloße “wissenschaftliche” Thesen gegenüberstellen, nicht äußerst willkürlich und unkritisch?

Das “wissenschaftliche” Glaubensbekenntnis wird dann so fortgesetzt: “Daß die Sonne sich verfinsterte, die Erde bebte, der Vorhang im Tempel zerriß und daß sich sogar Gräber öffneten”, gehört einfach “zu den Stilmitteln der Zeit”, wodurch “die Evangelisten auf diese bildhafte Weise die Bedeutung des Todes Jesu anschaulich machten” (a.a.O., S.55). 

Ohne nähere Begründung wird verkündet: “Es ist sicher, daß Jesus von den Römern verurteilt und von ihnen hingerichtet wurde. Unklar dagegen ist, wie weit jüdische Kreise, die Priesterschaft oder der Hohepriester, direkt daran beteiligt waren” (a.a.O., S.57). Wieder ein bloßes Vorurteil?

Und zur Auferstehung wird im wesentlichen nur Folgendes gesagt: “Alle Texte über die Erscheinungen des Auferstandenen sind also keine Protokolle über Vorgänge, die man aufgrund der Schilderungen rekonstruieren könnte, sondern sie müssen als bekennende Deutung der Jünger aus ihren Erfahrungen in der Gemeinde mit dem auferweckten Jesus verstanden werden” (a.a.O., S.61). “Gegen eine ... die Leiblichkeit abwertende Auffassung wandten sich später die Erzählungen vom leeren Grab” (a.a.O., S.62). “Wie haben die Apostel und die anderen Zeugen die Erscheinungen des Auferstandenen Jesus erlebt? - Darüber finden wir in den neutestamentlichen Schriften keine Aussagen. Die Jünger konnten mit eigenen Worten nicht ausdrücken, was sie erlebt hatten. Um dieser Not zu entgehen, übernahmen sie Bilder und Begriffe aus dem Alten Testament” (a.a.O., S. 63). Insgesamt verwundert es nicht mehr, daß auch ein klares Bekenntnis zur Gottheit Jesu fehlt.  Bei näherer Betrachtung dieser Passagen ist man mehr als erstaunt darüber, wie wenig von der ursprünglichen christlichen Verkündigung übrig bleibt. Man hat insgesamt nicht den Eindruck, daß das Zeugnis der Bibel weitergegeben und ernst genommen wird. “Wissenschaftlich” im eigentlichen Sinn kann eine solche Darstellung nicht zu sein. Vielmehr ein Sammelsurium von allzu menschlichen Vorurteilen und Meinungen?

Es geht nicht darum, dieses Tonbild zu “zerpflücken” oder wissenschaftlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Heiligen Schrift auszuweichen. Jedoch: Werden wir die Heilige Schrift je verstehen ohne den Heiligen Geist?

Hier liegt das Entscheidende: Christliche Verkündigung muß auf Christus schauen und das neue Leben in Christus weitergeben, welches über das bloß “innerweltlich” Mögliche weit hinausgeht! Wo wir nur voll “irdischer” Weisheit über ihn reden oder das Evangelium mit bloß menschlichen Theorien überfrachten, werden wir nie über bloß menschliche Vor-urteile hinauskommen. Wenn wir aber der Wahrheit Seiner Liebe unser Ohr zuneigen und aus voller und heiliger Überzeugung Ihm nachfolgen, werden wir uns ehrlich auf die Botschaft Jesu einlassen und die Aussageabsicht der Apostel und Evangelisten ernst nehmen und in ihrem Ernst verstehen. Thesen kommen, Thesen gehen und müssen bald wieder neuen Ideen Platz machen. Bestehen blieb aber in den zweitausend Jahren der Kirche der Glaube, zu dem uns Jesus den Weg gezeigt hat und den uns die katholische Kirche durch alle Zeiten treu überliefert hat. Er allein hat die Kraft, wertvolle Früchte zu bringen und uns das Leben zu geben. Der Glaube ist immer ein vernünftiger Glaube, das ist seit jeher der Grundsatz der katholischen Kirche. Ist der kritiklose Glaube der Wissenschaft gegenüber jedoch auch vernünftig? Man wird sich also fragen müssen, ob es für einen Christen passend ist, jede Form von “Wissenschaft” unhinterfragt zur “Richterin” des wahren Evangeliums hochzustilisieren und den Glauben allzu einseitig bestimmten “vorläufigen” “Erkenntnissen” unterzuordnen.

Diese beispielhaft Auseinandersetzung sollte uns dazu anregen, darüber nachzudenken, wer Jesus wirklich war und was die Apostel uns von Ihm verkündet haben. Der Heilige Geist möge uns dabei helfen. In Seinem Licht allein, nicht aber durch unsere eigene Weisheit werden wir Jesus in Wahrheit und unbeirrbar erkennen und Ihm in unserem Leben nachfolgen können. Seine Kraft und Seine Weisheit mögen uns erfüllen und uns helfen, die Früchte des Glaubens auch in unserem Alltag sichtbar werden zu lassen.

Allerdings müssen wir uns entscheiden: Für die Apostel, die ihr Leben für dieses Evangelium hingegeben haben, oder für eine neue Form von “Verkündigung”, die sich aber morgen schon überlebt haben könnte!?


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