Der Charakter dieser Zeit


In Seinen Gesprächen und Unterweisungen hat Jesus Christus Seine Jünger sicher nicht wenige Male darauf aufmerksam gemacht, wachen Auges die Zeichen der Zeit zu lesen. Wie die saftigen Zweige und die Blätter des Feigenbaums den Sommer ankündigen (vgl. Mt 24,32), so sollten die Jünger auch andere Ereignisse in ihrer Beziehung zueinander deuten. Obwohl ein Christ nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 15,19), lebt er dennoch in dieser Welt. Deshalb versucht er, die Zusammenhänge der Ereignisse, insbesondere die der freien Entscheidungen der Menschen, zu erkennen, um daraus u. a. auch Lehren für das eigene Verhalten zu ziehen. Entweder beugt er dann einer Fehlentscheidung vor, oder er nutzt den Erfahrungsschatz der Mitmenschen, um mehr Positives im eigenen Leben zu erreichen. 

So machen wir uns auch Gedanken über unsere Gesellschaft des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, über ihre geistige Grundlage. Nun, es wird heute einem überzeugten Christen nicht einfach gemacht, bewußt als Christ zu leben. Der Glaube an und die Ehrfurcht vor Gott nehmen leider rapide ab, das moralische Empfinden vieler unserer Zeitgenossen läßt häufig (und immer mehr) viel zu wünschen übrig, die Umgangsformen sind vielerorts ziemlich rau. In diesem Zusammenhang kann man die Worte des Völkerapostels, des hl. Paulus, wiederholen: “die Tage sind böse” (Eph 5,16)! Da ist man dann geneigt - je mehr man den moralischen Niedergang unserer Gesellschaft erfährt, desto mehr -, den allseits bekannten Spruch loszulassen, allein um sich etwas Luft zu verschaffen: “Früher war alles besser!” Soll es doch früher schon ein bißchen mehr Anstand, gegenseitige Rücksichtnahme und aufrichtigen Gottesglauben gegeben haben... 

In gewissem Grad ist dem wohl zuzustimmen. Stimmt es aber, daß in früheren Zeiten wirklich alles besser war, daß das Christsein auf der ganzen Linie leichter zu praktizieren war? Gab es denn im Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht schon immer mehr als genug Haß, Neid und Böswilligkeit? Bereits das erste Brüderpaar kannte Mißgunst und Mord (Kain). Feindschaft und Kriege durchziehen wie ein roter Faden die ganze Geschichte - zahllose unschuldige Opfer klagen ihre Peiniger an. An Derbheit der Sitten hat es leider ebenfalls niemals gefehlt. Die Auffassung, den Nächsten lediglich als Mittel zum Zweck zu benutzen, ist auch nicht erst in der jüngsten Zeit entstanden. Wie oft wurde ferner auch durch sündhafte Christen und unwürdige Hirten am christlichen Glauben und an der katholischen Kirche Anstoß genommen? Diese Aufzählung ließe sich beinahe beliebig fortsetzen. Im Prinzip gibt es in der heutigen Zeit kaum etwas, was es nicht schon früher jemals gegeben hätte. Die Geschichte kennt somit geradezu alle Untaten und Verbrechen, die in der Gegenwart begangen werden. Teilweise, aber nur teilweise, gibt es lediglich einen Unterschied in der Anzahl und in der Häufigkeit der anzutreffenden Gräueltaten. Dabei darf nicht von vorne herein als sicher ausgewiesen werden, daß diese Häufigkeit heute unbedingt höher liegt als in der Vergangenheit. 

Trotzdem ist in unserer heutigen Gesellschaft eine Tendenz auszumachen, die geradezu zu einem charakteristischen Zug, zu einer “Charaktereigenschaft” der Gegenwart gerechnet werden darf bzw. muß. Im Unterschied zu früher gibt es in der gegenwärtigen Gesamtgesellschaft die starke Strömung, das sittlich Böse, das moralische Unrecht nicht nur als erlaubt, sondern sogar als wünschens- und erstrebenswert darzustellen! Die Einstellung, die Taten, die man früher in Anlehnung an den christlichen Glauben als schlecht verworfen hat, sollen nun in der neueren Zeit als moralisch unbedenklich angesehen werden. Somit liegt das Interesse vor, das Böse zu legitimieren, es zur rechten, berechtigten, richtigen, erlaubten Norm des Denkens und Handelns zu machen! Und diese Tendenz hat wohlgemerkt die Gesamtgesellschaft, sämtliche Schichten unserer Gesellschaft erfaßt! Natürlich gab es zu jeder Zeit bei nicht wenigen das Interesse, das eigene begangene Unrecht als Recht und als richtig “hinzubiegen”, um sich schon allein dafür nicht rechtfertigen und verantworten zu müssen. Vielleicht haben bisweilen sogar ganze Schichten der Gesellschaft mehrheitlich eine starke Neigung zu solchem Vorgehen an den Tag gelegt. Insgesamt blieb aber im Volk, in der Gesamtheit der Gesellschaft das Bewußtsein des Unrechts bestimmter Untaten erhalten! 

Es ist z.B. keine Neuheit, wenn Menschen Ehebruch begehen, das gab es schon immer. Nur wurde der Ehebruch in der christlichen Gesellschaft schon immer als solcher gebrandmarkt - an der Tatsache, daß er eine Sünde vor Gott darstellt, wurde im Volk nicht gerüttelt. Die Abtreibung stellt im Prinzip auch nichts neues dar, sie wird ebenfalls nicht erst seit der Neuzeit praktiziert. Von vor- oder außerehelichen sexuellen Handlungen und Beziehungen ganz zu schweigen! Uneheliche Kinder kennt ja jedes Zeitalter. Trotzdem blieb im Volk insgesamt das Bewußtsein erhalten, daß dies alles - unabhängig davon, ob man hierin selbst sündigt oder nicht - etwas an sich Schlechtes, etwas moralisch Unerlaubtes darstellt, da es sich ja gegen den heiligen Willen Gottes richtet! 

Seit der sogenannten Aufklärung ist dagegen (anfänglich) das Bemühen festzustellen, alle diese und viele andere Dinge als in moralischer Hinsicht völlig harmlos hinzustellen, die man bedenkenlos praktizieren dürfe. Und das besonders Gefährliche daran ist, daß diese Einstellung des Liberalismus, wonach im Prinzip alles erlaubt sei, inzwischen sämtliche Schichten des Volkes erreicht und mehrheitlich durchdrungen hat! Kaum einer hat heute mehr an einer Ehescheidung auszusetzen, als nur das Bedauern über das fehlende Glück der Ehepartner und die abhandengekommene familiäre Harmonie auszusprechen, die für die Kinder äußerst wichtig ist. Gehen ja laut einer Umfrage, die vor einigen Jahren durchgeführt wurde, nur etwa 50% der Bundesbürger eine Ehe mit der Einstellung ein, zusammenzubleiben “bis der Tod uns scheidet”. Und wie viele davon sind bereit, im Konfliktfall unter allen Umständen am Prinzip der (inneren!) Unauflöslichkeit der Ehe festzuhalten? Es herrscht die Mentalität: hast bislang Pech gehabt in der Liebe, probiere es halt ein zweites, drittes und wieder ein anderes Mal. Davon, daß die Ehescheidung etwas an sich Unrechtes enthält, häufig keine Spur! 

In ähnlicher Weise geht man heute in weiten Schichten der Gesellschaft auch an das Problem der Abtreibung heran. Bezeichnenderweise wird dabei in der Regel nicht mehr von Mord oder Tötung ungeborenen Lebens (!) gesprochen, sondern lediglich von einem “Schwangerschaftsabbruch”. Es soll offenkundig der Eindruck erweckt werden, als handle es sich bei einer Abtreibung um etwas Wertneutrales, um etwas, was nicht im geringsten das Gewissen des Menschen zu beschäftigen und gegebenenfalls zu belasten habe! Und wer es sogar noch wagen sollte, außerehelich die geschlechtliche Enthaltsamkeit zu empfehlen und einzuschärfen, der ist bei der überwiegenden Mehrheit unserer Zeitgenossen völlig durchgefallen und gilt beinahe als abnormal. Sogar sogenannte “kirchliche” Kreise machen da häufig keine Ausnahme! Der Mensch dürfe/müsse halt seine sexuelle Veranlagung ausleben, Hauptsache, er gehe dabei, wie es da so schön und so fromm heißt (will man ja noch als einbißchen religiös erscheinen), “verantwortungsbewußt” vor. Darüber aber, daß diese Redensart schwammig und nicht konkret genug ist, schweigt man sich lieber aus. Wer will schon Anstoß erregen?! So wird im Namen der sogenannten “Liebe”, “Güte” und “Mitmenschlichkeit” die Wahrheit und die notwendige Klarheit aufgegeben. Durch diese Verharmlosung der Sünde, bzw. noch mehr durch ihre Leugnung, wird sie aber noch hemmungsloser und extremer praktiziert! Ein Blick in die Realität bestätigt dies. 

Und diese Bemühung weiter Teile unserer Gesellschaft, das moralisch Böse dort, wo man es gern haben möchte, gutzuheißen und zu legitimieren, ist zum Charakterzug unserer Zeit geworden. Es handelt sich hierbei, will man einen Vergleich aus der Medizin heranziehen, nicht mehr um eine zwar schwere, aber dennoch behandelbare Krankheit, sondern um ein wucherndes Krebsgeschwür! Ein Kranker muß zunächst sich selbst eingestehen, krank zu sein. Nur so kann er die Notwendigkeit einer Behandlung erkennen, sich ihr unterziehen und auf Besserung des Gesundheitszustandes hoffen. Beharrt er dagegen gegen alle Vernunft darauf, keine Krankheit zu besitzen, kann ihm überhaupt nicht geholfen werden. Mit dem unvernünftigen Beschönigen der Realität hilft er sich somit nicht nur nicht, sondern fügt sich darüber hinaus noch einen weiteren, vielleicht sogar schon einen irreparablen Schaden zu! 

Der Prophet Isaias spricht an einer Stelle einen Wehruf über die Verkehrung sittlicher Begriffe aus: “Weh, die ihr Böses gut und Gutes böse nennt! Die ihr Finsternis zu Licht macht und Licht zu Finsternis, die ihr Bitteres zu Süßem macht und Süßes zu Bitterem!” (Is 5,20) Denn dadurch wird die Moral grundlegend pervertiert, es ist nicht mehr klar, was gut und was böse ist, was gefordert und was abgelehnt wird. 

Und mit dem Verschwinden klarer sittlicher Begriffe wird grundsätzlich jegliche Moralität unmöglich gemacht, weil es dann keine objektive und vom Willkürwillen des Menschen unabhängige Instanz mehr gibt, die eine eindeutige und für alle verbindliche Sprache spricht. Wird ja Gott zu einem willenlosen Wesen degradiert, dessen Haupteigenschaft darin zu bestehen habe, den Wünschen der Menschen bestmöglichst zu willfahren. Jeder lege sich dann “Liebe”, “Güte”, “Mitmenschlichkeit” usw. so aus, wie es ihm gerade beliebt. Gibt man dem (sündenfälligen) Menschen die totale Narrenfreiheit bei der Bewertung ethischer Grundfragen, fördert man somit die sittliche Anarchie! 

Diesem Prozeß, den unsere Gesellschaft gerade durchmacht, liegt somit eindeutig diabolische Absicht zugrunde: wird der klare (und berechtigte!) Anspruch Gottes auf den Menschen bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt bzw. abgelehnt, wird in der Folge auch Er selbst in Frage gestellt! Schafft man erst die Unklarheit, ein Durcheinander in sittlichen Grundbegriffen, ist dann der Rest relativ leicht zu erledigen. Bezeichnenderweise beabsichtigte der Teufel bei der ersten und zweiten Versuchung Jesu, Ihn gerade dadurch in seinen eigenen Bann zu ziehen, daß er die göttlichen Worte der Hl. Schrift gegen Ihn, d.h. gegen Gott selbst ausspielen wollte! Und erst die dritte Versuchung offenbarte dann, welches Ziel sich letztendlich hinter dieser zweimal gespielten Frömmigkeit verbarg - die Absicht, nach dem Sturz Gottes sich selbst an Seine Stelle zu hieven (vgl. Mt 4,1-11)! Und dieser Prozeß wird von bestimmten Kreisen bewußt vorangetrieben, ihm wird willentlich Vorschub geleistet. Die Massenmedien zum Beispiel, allem voran das Fernsehen, bringen nicht nur, was die Menschen (von sich aus) konsumieren wollen, sondern auch, was die Bürger sehen und hören sollen. Oberflächlich geht es um Einschaltquoten und somit ums Geld; gewisse Gruppen, die im Hintergrund Entscheidungsvollmacht besitzen und somit an den Schalthebeln der Macht sitzen, wollen die Gesellschaft aktiv in eine bestimmte Richtung lenken. Und wir dürfen uns nicht täuschen lassen - es geht dabei oft um antichristliche Interessen! Die Freimaurerei hat sich da in den letzten Jahrhunderten besonders hervorgetan ... 

Wenn wir in dieser Zeit leben, dann muß es uns bewußt sein, auch dieser Versuchung der Verharmlosung der Sünde und somit des Abfalls vom lebendigen und wahren Gott ausgesetzt zu sein. Setzt sich nicht wohl jeder gelegentlich mit dem Gedanken auseinander, die eigene fehlerhafte Tat irgendwie zu beschönigen und in ihrer Schwere wenigstens etwas abzuschwächen? Und werden wir nicht im Sog der allgemeinen Tendenz bisweilen auch versucht, an der Eindeutigkeit und Kompromißlosigkeit der Gebote Gottes und der überlieferten sittlichen Lehren der katholischen Kirche zu rütteln, um als katholischer Christ nicht allein schon dem enormen Druck und der streitsüchtigen Widerspruchsbereitschaft unserer “aufgeklärten” Zeitgenossen ausgesetzt zu sein? 

Trotzdem, oder gerade deshalb muß sich ein Jünger Jesu Christi bewähren. Auch angesichts des Widerspruchs, der einem aus der Gesellschaft entgegengeschleudert wird, muß ein Christ die unerschütterliche Treue zu den geoffenbarten Lehren Gottes und der Kirche Gottes bewahren, trotz des kalten Gegenwindes darf ein Christ innerlich nicht ins Wanken geraten. Denn nur so kann er an den eigenen sicherlich noch vorhandenen Fehlern arbeiten, nur so kann er den Sieg über diese davontragen, um dann in der Folge zur inneren Freiheit und Erfüllung zu gelangen. Denn nur der, der bereit ist, bedingungslos die Oberhoheit Gottes anzuerkennen, wird auch des Friedens Christi teilhaftig, eines Friedens, der alle rein menschlich-irdische Erkenntnis übersteigt (vgl. Joh 14,27). Und durch diesen aufrichtigen Einsatz für die Sache Gottes, der unbedingt von persönlicher Bescheidenheit begleitet werden muß, wird schließlich auch die Fahne Gottes in dieser Welt aufrechterhalten und ein Zeichen für die Suchenden gesetzt werden können! 

 

P. Eugen Rissling


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