„Komm, Herr Jesus!“


Wohl jeder Christ hat sich bei der gedanklichen Beschäftigung mit dem Weihnachtsfest schon einmal in seinem Leben die Frage gestellt, warum denn der Herrgott so lange gewartet hat mit Seinem Kommen in diese Welt, warum Er sich erst vor etwa 2000 Jahren erniedrigte, um im Stall zu Bethlehem aus Maria, der Jungfrau, geboren zu werden, warum Er nach menschlichem Ermessen so spät am Stamm des Kreuzes das Heil für die Menschen gewirkt hatte. 

Denn das Menschengeschlecht war ja auch schon in der Zeit vorher zutiefst erlösungsbedürftig, seit eh und je ist es dem es schwerstens belastenden Fluch der Sünde unterworfen und damit substanziell auf den göttlichen Erlöser angewiesen. Außerdem hat ja der Herrgott nicht willkürlich, etwa in einer plötzlichen, bis dahin durch nichts abzusehenden Willensregung, den Entschluss gefasst, in Jesus Christus, Seinem eingeborenen Sohn, in dieser Welt zu erscheinen. Stehen ja mit anderen Worten alle Seine Entschlüsse in Ewigkeit und seit Ewigkeit fest; demnach auch der, der Welt die göttliche Erlösung zu schenken. 

Nun, niemand von uns, Menschen, kann eine erschöpfende Antwort auf die obigen Fragen geben. Wer wollte schon so vermessen sein zu behaupten, die „Ratschlüsse“ Gottes durchgehend erforschen, „Seine Wege“ lückenlos ergründen und „die Gedanken des Herrn“ ganzheitlich erfassen zu können (vgl. Röm 11,33f.)? Dazu wäre jemand nur in der Lage, wäre er selbst gottgleich. Dennoch ist es für uns nicht unstatthaft - eingedenk jedoch immer unserer Begrenztheit -, uns Gedanken über die betreffenden Zusammenhänge zu machen. Hat Er uns ja mit Verstand ausgestattet und „das Geheimnis Seines Willens kundgetan“ (Eph 1,9), soll uns ja „der Geist der Wahrheit ... in alle Wahrheit einführen“ (Joh 16,13), und will Er ja, dass wir „die Wahrheit erkennen“ (Joh 8,32) und „zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). 

Und vielleicht bestand somit einer der Gründe für das scheinbar lange Warten Gottes, um Mensch zu werden und durch Sein Leiden und Sterben das Heil für uns zu erwerben, darin, die Menschheit bzw. Israel als Ganzes erst reif werden zu lassen für Seine Menschwerdung und Sein Heilswirken. Es gibt ja in jeder Gesellschaft bzw. in einer kleineren oder größeren sozialen Einheit (Familie, Volk, Nation) so etwas wie einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Der eine sammelt halt irgendeine Information, die auch für seinen Familienangehörigen oder Nachbar von Bedeutung ist, macht eine positive oder auch negative Lebenserfahrung, ob er nun dazulernt oder auch auf die Nase fällt, und teilt diese dann einem anderen mit, damit dieser entweder angeleitet, besser orientiert oder auch vor einer bestimmten Gefahr gewarnt ist. Da der andere einem nicht völlig gleichgültig ist, will man eben einander mit Rat und Tat zur Seite stehen. 

Und so reichert man die gemeinsame Erfahrung Schritt für Schritt, Punkt für Punkt an. Obwohl leider immer wieder dieselben Fehler begangen werden, wird man auch als Gemeinschaft dennoch gelegentlich etwas erfahrener und hoffentlich auch reifer. So wird dieser Erfahrungsschatz in mancherlei Hinsicht von den Älteren an die Jüngeren, von den Eltern an ihre Kinder, von den Lehrern an die ihnen anvertrauten Schüler weitergegeben. Zumal allein schon aus den Fehlern früherer Generationen nicht wenig dazugelernt werden kann, wie wir es vom Geschichtsunterricht her kennen. Somit ist dieser Prozess unter den Generationen ganz natürlich und durchaus hilfreich. Und in unserem Fall hier geht es um die Erfahrung der Not und der Hilfsbedürftigkeit der Menschheit! Seit Adam und Eva haben die Erdbewohner nämlich die leidige Erfahrung machen müssen, sich trauernd, weinend und seufzend „im Tal der Tränen“ (Salve Regina) zu bewegen, der schmerzhaften Gottesferne ausgeliefert bzw. der Sinn- und Orientierungslosigkeit unterworfen zu sein. Von Anfang an musste die Menschheit mehr oder weniger intensiv in Erfahrung bringen, ohne Gott, auf sich allein gestellt, nicht das geringste, was für die übernatürliche Welt wirklich Bestand hat, auf die Beine stellen zu können. 

Und da das Wissen um diese Art der eigenen Ohnmacht mit jedem neuen Fall nicht nur nicht abnahm, sondern naturgemäß immer weiter anwuchs, steigerte sich dementsprechend auch die gemeinsame Sehnsucht der Menschheit nach der Hilfe von oben, das Verlangen nach jemand, der in der Lage ist, dem Menschen in seiner Not beizustehen, das Streben nach Sinn in einer, für sich allein genommen, sinnlosen Welt. Und je häufiger die Erfahrung der eigenen Hilfsbedürftigkeit gemacht werden musste, desto stärker wurde auch der Hunger der Menschheit nach Hilfe, Erlösung und letztendlich nach Gott! Die Bücher des Alten Testaments - allem voran die Psalmen - sind voll von flehentlichem Ruf um Befreiung aus der großen Not, um Erlösung aus dem eigenen Elend: „Gott, wende Dich uns zu und gib uns neues Leben; dann wird Dein Volk in Dir sich freuen. Erzeige uns, o Herr, Deine Barmherzigkeit und schenke uns Dein Heil“ (Ps 84,7f.); „Herr, Gott der Himmelsheere, erneuere uns; zeige uns Dein Antlitz, und wir sind gerettet“ (Ps 79,20). 

Dem Volk Israel wurde es dann aber auch klar, dass in letzter Konsequenz Gott selbst kommen und ihm das Heil bringen muss. Nur auf diesem geschichtlichen Hintergrund ist der inständige Ruf, ja geradezu Schrei des vorchristlichen Israel richtig zu verstehen. Beachten wir bitte auch die Ausdrucksstärke und Intensität folgender Gebete: „Herr, der Du thronest über den Cherubim, [...] biete Deine Macht auf und komm, um uns zu erlösen“ (Ps 79,2f.); „Tauet, Himmel, von oben, und ihr, Wolken, regnet den Gerechten. Es eröffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor“ (Is 45,8)! Und vielleicht hat Gott in Seiner Allwissenheit und Vorsehung deshalb entschieden, nicht gleich nach dem Sündenfall das Werk der Erlösung zu vollbringen, damit den Menschen - als einem großen Kollektiv! - ihre eigene substanzielle Not und ihr fundamentales Elend in der ganzen Tragweite zu Bewusstsein kommen konnte, damit sie ihr Angewiesensein auf den Herrgott und auf Seine heilende Gnade erst allen Ernstes realisieren sollte. 

Und zwar hat Gott so keinesfalls etwa aus purer Willkür gehandelt, sondern damit der (Ihn suchenden) Menschheit dann in der Folge der Blick auch dafür geöffnet werden konnte, das Heilwirken Jesu Christi, Der „der Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild des Wesens“ des Vaters (Hebr 1,3) ist, entsprechend zu verstehen, zu bewerten und schätzen zu lernen!!! Denn erst wenn jemand richtig versteht, welche immense Bedeutung ein bestimmtes Geschenk für ihn hat, weiß er dieses auch zu schätzen und dafür dankbar zu sein. Außerdem können die Früchte der Erlösung ihre Wirkung beim Menschen ebenfalls nur unter dieser Voraussetzung optimal entfalten. Wir, heute, machen in mancherlei Hinsicht auch eine schwere Zeit durch (auch wenn es uns auf den ersten Blick hin ausgesprochen gut zu gehen scheint). Nicht nur, dass es für jeden einzelnen von uns nicht leicht ist, uns bei so einigen Anfechtungen des Alltagslebens zu einem uneingeschränkten „Ja“ zu Gott und Seinem heiligen Willen durchzuringen. Wer kennt das nicht? Nicht nur, dass uns auch seitens unserer westlichen Gesellschaft der Jahrtausendwende ein starker Wind entgegen bläst, die Gott letztendlich aufgegeben hat und den Verlockungen des Materialismus und des momentanen Reizes erlegen ist. 

Nein, sogar die (im 2. Vatikanum "reformierte Kirche“ als eine große Gemeinschaft macht seit Jahrzehnten eine substanzielle Krise durch und bietet uns nicht nur keinen Rückhalt für die Auseinandersetzung gegen die Widersacher Gottes - sie fördert nicht selten sogar höchst aktiv diesen Abfall von christlichen Werten und dem gesunden katholischen Glauben! Wie soll man da nicht von großer Sorge erfüllt sein? 

Daher besteht unsere heutige Aufgabe ohne jeglichen Zweifel darin (umso dringender!), sich mit diesem apostolischen Glauben, dem Glauben unserer Vorfahren, ernsthaft auseinanderzusetzen, um auf dem Weg der Erkenntnis und der Einsicht seiner tiefen göttlichen Wahrheiten möglichst auch dazu zu gelangen, ihm die eigene Wertschätzung entgegenzubringen und ihn zu lieben! Ebenfalls müssen wir uns intensivst Gedanken über die Ursachen des modernistischen Glaubensabfalls machen und dann auch versuchen, neben der Vermittlung der unveränderlichen katholischen Wahrheiten unsere Mitmenschen im Maß des Möglichen auch über die auf sie lauernden Gefahren des Modernismus aufzuklären. 

Vergessen sollten wir aber daneben auf keinen Fall auch das Gebet, den inständigen Ruf um Gottes Hilfe und Beistand in unserer menschlich gesprochen schier aussichtslosen Situation! Nur wenn wir nicht nur uns selbst unser häufiges Unvermögen und unsere zahlreichen Unzulänglichkeiten schonungslos eingestehen, sondern auch Ihm gegenüber aufrichtig bekennen, mit dem eigenen (menschlichen) Latein am Ende zu sein; nur wenn wir Ihm im flehentlichen Gebet deutlich zu erkennen geben, dass unsere Hoffnung letztendlich nur auf Ihm, auf Seinem erbarmungsvollen Entgegenkommen ruht; sind wir erst bereit, Seine Gnade, wie auch immer sie im einzelnen aussehen mag, zu empfangen bzw. lassen wir erst zu, dass sie in uns ihre Wirkung segensreich entfalten kann! 

Nutzen wir also die Adventszeit, die uns ja an das sehnsüchtige vorchristliche Erflehen des kommenden Messias und Erlösers erinnert, dazu, in uns zu gehen, innerlich einzukehren, uns auf den katholischen Glauben und auf bleibende christliche Werte zu besinnen, unser geistiges Auge auf Ihn zu richten. Vereinigen wir uns dabei mit dem inständigen Gebet der Kirche, die in innerer Sammlung Ihn erfleht, um unter anderem eben auch Seine großzügige Hilfe in der eigenen großen Not zu erhalten. Vielleicht ist uns von Ihm ebenfalls eine Prüfungszeit zugedacht, damit wir uns läutern und auf Ihn ausrichten können! 

 

P. Eugen Rissling


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