Die christliche Vergebung


Die Vergebung Gottes

Wenn wir das Wirken Gottes unter den Menschen mit kurzen Worten beschreiben sollten, dann scheint die folgende Stelle aus dem Johannesevangelium dafür geeignet zu sein: “So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern das ewige Leben habe. Denn Gott hat Seinen Sohn nicht dazu in die Welt gesandt, daß Er die Welt richte, sondern damit die Welt durch Ihn gerettet werde” (Joh 3,16f.). Gott hat demnach die Menschen nicht nur “geliebt”, sondern sogar “so sehr geliebt”, daß Er bereit war, Sein eigenes Leben für sie hinzugeben! 

Dadurch daß nun Jesus Christus als völlig Unschuldiger das Leiden und den Tod auf sich nahm, hat Er Sühne für die Sünden dieser Welt gewirkt. Er hat die ganze Schuld der Menschheit auf sich geladen und durch dieses Liebesopfer “die Schuldschrift, die uns mit ihrer Anklage belastete, ausgelöscht und vernichtet” (Kol 2,14). Der Heilige ist freiwillig für die Schuldigen gestorben und hat die Wiedergutmachung in den Augen Seines Vaters geleistet. Himmel und Erde, Gott und die Menschen sind wieder miteinander versöhnt worden. Und diese Liebe Gottes zu den Menschen besteht darin, daß Er ihnen ihre Schuld vergibt, die sie durch die Übertretung der heiligen Gebote Gottes auf sich geladen haben, und zwar handelt es sich dabei um eine gänzliche Vergebung. Vergebung bedeutet, dem anderen seine Schuld vergeben, zurückgeben, nichts mehr davon bei sich zurückbehalten, ihn nicht mehr daran vorwurfsvoll erinnern, das Vergehen des anderen vergessen, es schließlich als nicht geschehen betrachten. Die Sünde bleibt Sünde, sie wird durch kein Kunststück der Welt weginterpretiert. Aber für Gott in Seiner großen Güte existiert sie nach der dem Menschen gewährten Verzeihung nicht mehr. Gerade darin offenbart sich die Liebe und Herrlichkeit Gottes, daß Er die Bereitschaft besitzt, einem jeden von uns die Schuld zu vergeben, sofern wir reuig zu Ihm zurückkehren und Ihn aufrichtig um Verzeihung bitten. Wir nennen Gott barmherzig - Er besitzt ein mit Erbarmen erfülltes Herz, ein Herz voll Erbarmen! Will Er ja letztlich, daß “die Welt durch Ihn gerettet werde”. Und um dies zu ermöglichen, war Sein Liebestod am Kreuz zur Sühne für die Sünden der ganzen Menschheit erforderlich. 

Noch ein Umstand spielt hier eine große Rolle. Schon in unseren weltlichen Gesetzbüchern richtet sich die Schwere der Schuld bei einer Gesetzesübertretung auch nach der gesellschaftlichen Stellung des Geschädigten. Ein Vergehen gegen eine höhere Amtsperson wird in der Regel schwerer bewertet als eins gegen einen einfachen Bürger. Gott ist aber das höchste und vollkommenste Wesen, Er hat unsere Sünden nicht mitverursacht, wie es bei uns im Umgang mit unseren Mitmenschen doch oft der Fall ist. Demnach ist auch ein sittliches Vergehen gegen Ihn als den unendlich Guten und Heiligen prinzipiell eine unendliche und unendlich schwere Schuld. Um so grenzenloser erweist sich dann aber auch der Herrgott in Seiner Güte, Liebe und Herrlichkeit, daß Er trotzdem für den Sünder stirbt und ihm den Weg zum Paradies eröffnet: “Gott aber erweist Seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren” (Röm 5,8)! 

Wir haben uns an diese zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens, daß Gott nämlich Sünden verzeiht, gewöhnt. Unsere Vorstellung von der Barmherzigkeit des eingeborenen Gottessohnes bleibt leider viel zu oft nur auf der Oberfläche, ohne in die Tiefe zu gehen. Das lebendige Bewußtsein von der Güte Gottes kommt uns häufig ab. Darunter leidet dann natürlich auch unser ganzes Glaubensleben. Die ersten Christen waren dagegen von der Tatsache, daß Gott auf Erden Sünden verzeiht, überwältigt. Zwar wurde schon vor Jahrhunderten prophezeit, daß der Herr selbst kommen wolle, um das Volk zu erlösen (vgl. Is 35,4). Bis dahin blieb allerdings dieser Satz in gewissem Sinn nur graue Theorie. Mit dem Kommen Gottes in Menschengestalt wurde nun die Wahrheit dieses Satzes zur realen Wirklichkeit, die man unter Umständen auch selbst miterleben konnte. Den Zeitgenossen Jesu Christi war es klar, daß niemand außer Gott Sünden vergeben kann (vgl. Mk 2,7). Und nun übte jemand in ihrer Gegenwart diese Vollmacht der Sündenvergebung aus. Die Menschen, die Zeugen waren, wie Jesus dem Gelähmten seine Sünden nachließ und ihn daraufhin auch körperlich heilte, “waren deshalb außer sich vor Staunen, priesen Gott und sagten: ´So etwas haben wir noch nie gesehen´” (Mk 2,3-12). Und die Tischgenossen im Hause eines Pharisäers, die hörten, wie Jesus der stadtbekannten Sünderin ihre Schuld vergab, dachten bei sich nach: “Wer ist dieser, daß er sogar Sünden vergibt?” (Lk 7,48f.) 

 

Die Vergebung als christliche Tugend

Ergriffen von dieser Tatsache, daß Gott barmherzig ist, zieht die frühe Christenheit daraus die an sich notwendige Schlußfolgerung, daß die Barmherzigkeit auch die Tugend eines jeden Jüngers Jesu Christi sein muß. Exemplarisch kommt dies in den folgenden Worten des hl. Paulus zum Ausdruck: “Als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte ziehet also an herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut und Langmut. Ertragt einander und verzeiht, wenn einer am anderen etwas auszusetzen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so sollt auch ihr vergeben. Über all das habt die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist” (Kol 3,12-14). 

Der Apostel will sagen: Wenn schon Gott, der doch der Heilige schlechthin ist, aus lauter Barmherzigkeit zum sündigen Menschengeschlecht für uns am Kreuz gestorben ist, um wieviel mehr müssen wir, die wir doch niemals sündenfrei sind, die Veranlassung erkennen, denselben Geist der Vergebung zu besitzen! Wenn schon Gott, den im Unterschied zu uns keine Schuld am Mißgeschick dieser Welt trifft und der sogar die Schuld Seiner Peiniger sühnend auf sich genommen hat, bereit ist, uns die Verzeihung zu gewähren, um wieviel mehr sollten wir, die wir doch so manches Elend mitverschulden, uns verpflichtet fühlen, uns in derselben Vergebungsbereitschaft zu üben. Wenn jemand ein Unrecht widerfahren ist, und es sich dabei um eine persönliche Angelegenheit handelt, dann tut er gut daran, nicht immer wieder auf das erlittene Unrecht hinzuweisen, sondern in christlicher Liebe zu vergeben und zu vergessen, auch wenn er noch nicht um Verzeihung gebeten worden ist. Wollte er dies nämlich nicht tun, dann wird nicht der innere Friede, der Friede Christi, in sein Herz einkehren können, weil er ja immer noch die Verärgerung in sich trägt. Durch die daraus resultierende Neigung, Vorhaltungen - bisweilen auch noch nach Jahren (!) - zu machen, ist ein Streit vorprogrammiert, an dem dann oft auch Unbeteiligte zu leiden haben. Wer nicht verzeihen will, muß innerlich aufgewühlt sein, weil er ja nicht zur Ruhe kommen kann. 

Wer dagegen nicht nachtragend und zur Verzeihung bereit ist, vermag (in der Nachahmung Christi!) sogar seine Feinde zu lieben und für die zu beten, die ihn verfolgen. So erweist er sich als ein Kind des himmlischen Vaters, “der Seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben? Tun das gleiche nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Freunde grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das gleiche nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist” (Mt 5,44-48)! Dabei geht es nach der Lehre Christi nicht darum, nur dann und wann, etwa bei feierlichen Anlässen sich “gnädig” zu erweisen. Dadurch wird dem Gebot des gegenseitigen Vergebens nicht Genüge getan. Das Evangelium Jesu Christi verlangt von uns, die Vergebungsbereitschaft als eine Haltung, als eine durchgängige Lebenshaltung zu besitzen! Nur dann wird bei uns etwas zur Tugend, wenn es von uns mit allen Kräften angestrebt und möglichst durchgehend praktiziert wird. Wie bei Gott die Barmherzigkeit zu Seinem Wesen gehört, so soll es auch bei uns sein. 

Wir selbst nehmen ja auch diese Barmherzigkeit Gottes gern in Anspruch. Wie oft haben wir uns gegen den Herrn versündigt, und dennoch verzeiht Er immer wieder einem jeden reuigen Sünder, auch wenn es “siebenundsiebzigmal” sein sollte (vgl. Mt 18,22). Wir würden wohl verstört reagieren, wenn Gott uns trotz Reue und Umkehrwillen nicht verzeihen wollte. Ebenfalls erwarten wir wie selbstverständlich, daß auch unsere Mitmenschen mit uns Nachsicht walten lassen. Empören wir uns nicht bisweilen, wenn uns jemand manchmal sogar unsere Jugendsünden nachtragen sollte? 

Niemand von uns ist ohne Fehler, wie oft geschieht es, daß wir durch Wort oder Tat andere verletzen. Sehen wir da nicht schon allein aus Solidarität mit den anderen die Veranlassung, manche persönliche Kränkung lieber (gänzlich) zu schlucken als gleich in die Luft zu gehen? Manchmal werden uns unsere wohlmeinenden Äußerungen und Handlungen (aufgrund von Mißverständnissen, ohne böse Absicht) sogar in negativer Hinsicht ausgelegt, ohne daß uns diese vermeintlichen Absichten überhaupt jemals in den Sinn gekommen wären. Deshalb ist die (auch gedankliche) Gelassenheit nie fehl am Platz. So wird mancher (unnötige) Streit und Skandal vermieden - die Menschen finden ja sonst genug “Grund”, sich gegenseitig zu zerfleischen. 

Im “Vater unser” läßt uns Jesus beten: “und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern” (Mt 6,12). Das zuversichtliche Erwarten der Verzeihung unserer Sünden ist an eine Vorbedingung geknüpft - erst wenn wir bereit sind, den anderen zu vergeben, dürfen wir für uns einen gnädigen Gott erwarten. Und im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht sagt der Hausherr zu jenem: “Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe? Voll Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten.” Und Jesus fügt dem hinzu: “So wird auch Mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht” (Mt 18,32-35). 

Auf die Verzeihung, die Gott uns gewährt, können wir durch nichts einen Anspruch erheben. Es ist ein reines Herablassen Gottes, wir haben sie an sich nicht verdient, sonst wäre es ja keine Gnade. Dennoch gibt es bei Gott die Vergebung in gewissem Sinn nicht gänzlich zum Nulltarif - der Mensch muß diese Vergebung haben wollen, d.h. er muß seine Sünden vorher unbedingt bereuen und sein Leben ändern wollen! Und dann kann er im Prinzip sicher sein, daß Gott ihm verzeiht, was auch immer er angestellt haben mag. So sollen auch wir dem anderen nicht immer alles durchgehen lassen. Der Grundsatz, “dem Bösen keinen Widerstand zu leisten”, dem Peiniger die linke Wange hinzuhalten, wenn er einem auf die rechte schlägt (vgl. Mt 5,39), gilt nur für den Fall, daß es sich um rein persönliche Kränkung handelt. Wenn es aber um eine ernsthafte Gefährdung der Gesundheit, des sozialen Friedens oder sogar des Seelenheils geht, wenn dadurch den anderen Menschen (z.B. den Schutzanbefohlenen) ein ernsthafter Schaden für Leib oder Seele zu entstehen droht, dann muß man sich zur Wehr setzen. Dann muß auch verlangt werden, daß der Schuldige die Sache in Ordnung bringt. 

Dennoch rechtfertigt dies keine Haßgefühle gegen den Betreffenden. Man muß trotz aller psychologischer Schwierigkeit genau zu unterscheiden lernen zwischen der unrechten Tat eines Menschen und seiner eigenen Person. Das berechtigte maßvolle Auflehnen gegen das Unrecht darf uns nicht verleiten, den Rechtsbrecher als solchen moralisch vernichten zu wollen. Wichtig wäre, daß wir auch in diesem Fall verzeihen, und zwar in der Hoffnung verzeihen, daß der andere sich bessert. 
Grundsätzlich ist im Zusammenhang mit der Beurteilung anderer Menschen immer höchste Vorsicht geboten. Wie leicht redet man sich (und den Mitmenschen) ein, es handele sich um höhere Interessen, wobei es einem trotz allem Getue nur darum geht, sich persönlich zu rächen. Wie schnell wird behauptet, Gott, Kirche und die Welt seien in Gefahr, dabei stellt sich nach einer gründlichen Analyse heraus, daß nur der persönliche Stolz verletzt wurde. 

Wohl jedem von uns fällt es nicht ohne weiteres leicht, bei sich festzustellen, ob man nun seinen Gegner haßt oder nur dessen unrechtes Handeln ablehnt. Eine große Hilfe kann uns dabei die Frage bieten, ob wir bereit und fähig sind, an den Betreffenden zu denken und über ihn zu reden, ohne gleich einer übermäßigen inneren (geschweige denn äußeren) Erregung zu verfallen. Ob ich bereit bin, ein sachliches Gespräch zu führen und gegebenenfalls auch dessen positive Eigenschaften zu erwähnen. Und vor allem, ob ich innerlich bereit bin, für meine Beleidiger aufrichtig zu beten, auch wenn es sich nur um ein kurzes Gebet handeln sollte. 

Nur so können wir die Lehre des hl. Apostels Paulus befolgen, “als Heilige und (von Gott!) Geliebte ... herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut und Langmut” anzuziehen, einander zu ertragen und zu verzeihen, wie der Herr uns “vergeben hat”. Nur so werden wir das Gebot Christi, die Vollkommenheit Gottes zu befolgen, erfüllen können, der uns ja “zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, dabei aber seinen Bruder haßt, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt ... , der kann auch ... Gott nicht lieben. Wir haben also das Gebot von Ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben” (1 Joh 4,19-21). 

 

P. Eugen Rissling

 

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