Von der Bedeutung des Bittgebetes


Wahrscheinlich jeder Christ hat sich in seinem Leben schon einmal die Frage gestellt, warum denn Gott so lange gewartet hat mit Seinem Kommen in diese Welt, warum Er erst vor ungefähr 2000 Jahren Mensch geworden ist und uns das Heil gebracht hat. Man könnte sich vorstellen, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn Er gleich oder wenigstens bald nach dem Sündenfall die Erlösung durch Sein stellvertretendes Leiden gewirkt hätte. Denn die Menschen, die zeitlich vor Seiner Menschwerdung gelebt haben, hatten ja im Unterschied zu uns auch beim besten Willen nicht die Möglichkeit, sich ihrer menschlichen Schuld vor Gott zu entledigen und den ursprünglichen Frieden mit Ihm herstellen zu lassen. Warum denn ein so spätes Erscheinen Gottes auf Erden? 

Nun, diese Frage wird letztendlich niemand von uns, Menschen, im vollen Umfang beantworten können. Denn niemand von uns kann sich mit Ihm messen: „O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind Seine Ratschlüsse, wie unergründlich Seine Wege! Denn wer erfasst die Gedanken des Herrn? Wer ist Sein Ratgeber?“ (Röm 11,33f.) Man müsste schon selbst den göttlichen Verstand und die göttliche Weisheit besitzen, d.h. Gott sein, um alles voll begreifen zu können. Aber dennoch können wir grundsätzliches einiges aus der Welt Gottes verstehen, zwar mit unserem begrenzten menschlichen Verstand, aber nichtsdestoweniger richtig. Denn wir sind ja schließlich nach Gottes Ebenbild erschaffen worden (vgl. Gen 1,26), daher sind wir auch aufgerufen, Ihn zu erkennen und zu lieben! Ist ja uns, den Gläubigen, ebenso wie den Aposteln der Heilige Geist geschenkt worden, Der uns „in alle Wahrheit einführen“ soll (Joh 16,13). 

Und vielleicht kann es uns der folgende Gedanke ermöglichen, eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen zu geben. Wir wissen ja, dass es in vielen Lebensbereichen einen sogenannten gemeinsamen Erfahrungsschatz der Menschen bzw. der Menschheit gibt. Die eine Generation z.B. macht ihre bestimmten Erfahrungen im Leben und gibt sie der nachfolgenden Generation weiter. Die ihrerseits muss natürlich teilweise unbedingt ihre eigenen Erfahrungen sammeln, um zu lernen und so erfahren zu werden. Aber teilweise kann sie durch die wertvollen Hinweise der Vorgängergeneration auch schon auf einiges vorbereitet bzw. eingestellt sein, was ihr im eigenen Leben sicherlich zu Hilfe kommen wird. Und so von einer zu einer anderen Generation weiter. Somit reichert sich der Erfahrungsschatz der Menschheit von den Eltern auf ihre Kinder, von den Erziehungsberechtigten auf ihre Schützlinge, von den Verantwortlichen auf die Untergebenen immer mehr an, weiß man natürlich das zu schätzen und geht man behutsam damit um. Und wie es allgemein im Leben gilt, so wohl auch in dem wichtigen religiösen Bereich, im geistlichen Streben nach Gott! Welche Erfahrung musste denn die Menschheit in der Zeit vor Christi Geburt machen? 

Nun, die Menschen waren sich sicherlich ihrer Schuld vor Gott bewusst, der Tatsache, dass sie sich vor Gott versündigt haben! Denn wer kann schon von sich behaupten, von menschlicher Schuld gänzlich frei zu sein? Somit vollzieht nur ein törichter und völlig verblendeter Mensch nicht die Erkenntnis, ein Schuldner vor dem Sittengesetz, vor der höchsten moralischen Instanz, die Gott ist, zu sein. Und weiß man um die eigene Not, macht man tagtäglich die Erfahrung der eigenen Not durch, dann weiß man auch, dass man auf die Hilfe von oben angewiesen, dass man hilfsbedürftig ist! Denn selbst, allein kann sich der Mensch nicht von der eigenen Schuld befreien. Sie muss ihm vergeben werden! Somit wuchs bei den frommen Israeliten in der Zeit vor Christus in ganz besonderer Weise die tiefe Sehnsucht und das inständige Verlangen nach der Hilfe von oben, nach der Erlösung vom moralischen Elend, mit anderen Worten: der Hunger nach Gott! Es ging den Weisen und Frommen nicht nur um den militärischen Beistand bei manchen notwendig gewordenen Schlachten, etwa bei Verteidigung des eigenen Landes und Volkes. Nein, ihnen, so vor allem z.B. den Propheten, war es klar, dass die Ursache von allem Übel in der Welt in der (religiösen) Sünde des Menschen vor Gott liegt. Und diese Erkenntnis ließ in ihnen immer mehr und immer weiter die bereits angesprochene Sehnsucht nach dem Erlöser entstehen und erwachsen. 

Und manche Stellen des Alten Testamentes lassen diesen aufrichtigen Geist der Selbsterkenntnis zum Vorschein kommen: „Ich strecke zu Dir meine Hände aus. Meine Seele harrt Deiner wie Dürrland. Herr, erhöre mich eilends! Mein Geist vergeht. Verbirg Dein Antlitz nicht vor mir! ... O, lass mich bald Deine Gnade erfahren; denn ich vertraue auf Dich!“ (Ps 142, 6-8) Man sehnte sich nach einer rundum erneuerten Beziehung zu Gott: “´Denn siehe, es kommt die Zeit´, - Spruch des Herrn - ´da schließe Ich einen neuen Bund mit Israels Haus und Judas Haus. Nicht einen Bund, den Ich geschlossen mit ihren Vätern, als Ich sie bei der Hand nahm, sie aus Ägypten zu führen, einen Bund, den sie gebrochen haben ... Nein, dies wird der Bund sein, den Ich schließen werde nach jenen Tagen mit Israels Haus´- Spruch des Herrn -: ´Ich lege Mein Gesetz in ihr Herz und schreibe es in ihre Seele. So werde Ich ihr Gott sein, und sie sollen Mein Volk sein ... Denn ihre Schuld vergebe ich ihnen und ihrer Sünden gedenke Ich nicht mehr´“ (Jer 31, 31-34). 

Nicht umsonst lässt auch die katholische Kirche in der Adventszeit, in der Zeit der Vorbereitung auf das Kommen Gottes in Menschengestalt, immer wieder dieses „Veni - Komm“ der Israeliten in ihrer Liturgie und in ihrem Stundengebet wiederhallen: „Komm, zeige uns dein Angesicht, o Herr, der Du thronest über den Cherubim, und wir sind gerettet“ (Ps 79,4 - Introitus vom Quatember-Samstag); „Biete Deine Macht auf, o Herr, und komm, uns zu erlösen“ (Ps 79,3 - Graduale desselben Tages); „Tauet, Himmel, von oben! Ihr Wolken, regnet den Gerechten! Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor“ (Is 45,8 - Introitus vom Quatembermittwoch). Und vielleicht hat der liebe Gott gerade deshalb so lange mit Seinem Kommen in diese Welt gewartet, damit im Volk immer mehr sowohl das Bewußtseins um die eigenes Not und das moralische Elend als auch die Erkenntnis von der eigenen Hilfsbedürftigkeit und des allseitigen Angewiesenseins auf die Hilfe Gottes wächst. Denn nur dann, wenn die Menschen mit jeder Faser ihres Herzens und ihrer Seele davon durchdrungen sind, werden sie auch die ihnen im Heilswirken Christi gewährte Gnade Gottes zu würdigen und zu schätzen wissen! Vielleicht sollte das Volk auch zuerst inständig beten und den Erlöser flehentlich herbeirufen lernen, um dadurch in die Lage versetzt zu werden, in Ihm wirklich uneingeschränkt den Urheber aller guten Gaben zu erblicken und zu verehren. 

Und wir heute, befinden wir uns denn nicht in mancherlei Not, sind wir nicht ebenfalls massiv auf die Hilfe Gottes angewiesen? Wenn wir uns nur umschauen, (fast) überall enorme Zersetzungserscheinungen in den Familien, in Gesellschaft, Staat und (Amts-)Kirche. Wie wenig wird von den Menschen auf den heiligen Willen Gottes Rücksicht genommen, wie wenig wird ihm im Handeln Rechnung getragen! Es seien hier nur Abtreibung, Ehebruch und sexuelle Zügellosigkeit, Hass, Gewaltbereitschaft und Verlogenheit, materialistisches Denken und zwischenmenschliche Rücksichtslosigkeit als inzwischen tägliche Verhaltenserscheinungen in unserer Gesellschaft genannt. Und wie groß muss auch die Verblendung und Ehrfurchtslosigkeit jener sein, die sich am schrecklichen Verrat beteiligen, den die Amtskirche am überlieferten Glauben und der apostolischen Liturgie der katholischen Kirche, der Kirche aller Jahrhunderte, mittels ihrer „Reformen“ betreibt! Ob nun diese Beteiligung durch Schweigen und sträfliche Passivität, durch ausdrückliche Gutheißung und Förderung oder auch durch wahrheitswidrige Verharmlosung erfolgt. 

Was können wir dagegen unternehmen? Selbstverständlich müssen wir zunächst alle Sachverhalte klar beim eigentlichen Namen nennen. Das Unrecht kann und darf niemals zu Recht, die Sünde zu einer guten Tat umgewandelt werden. Selbstverständlich gehört es ebenfalls zu unseren Pflichten, die besagten Probleme reflexiv-gedanklich, d.h. theologisch wie philosophisch aufzuarbeiten, um grundsätzlich auf den jeweiligen springenden Punkt hinweisen und den Menschen Orientierung geben zu können. Ohne diese geistige Leistung und die darauf folgende Vermittlung ihrer Ergebnisse wird der guten Sache nicht geholfen werden können. Aber dennoch dürfen wir bei allem Nachdenken, Erklären und Diskutieren noch eine andere Tätigkeit niemals vergessen: das Gebet, speziell das Bittgebet! Stoßen wir denn auch bei unseren bisweilen noch so edlen Bemühungen nicht oft an eine Grenze des eigenen Könnens? Entweder durchdringt man selbst nicht ganz einen wichtigen Sachverhalt oder es gelingt einem nicht, die eigene an sich klare Überzeugung zwecks Vermittlung verständlich genug in Worte zu fassen. Machen wir außerdem manchmal nicht auch die traurige Erfahrung, dass einem wohl aus Mangel an gutem Willen absichtlich nicht richtig zugehört wird? 

Und wenn wir dann in allen diesen Anliegen Gott um Hilfe angehen, dann gestehen wir auf der einen Seite sowohl Gott als auch uns selbst unser eigenes Unvermögen oder unsere Schwäche ein. Ohne dieses aufrichtige Eingeständnis ist kein Bittgebet möglich. Denn hält man sich nicht für hilfsbedürftig, bittet man folgerichtig auch nicht um Hilfe. Und Gott hilft nur dem, der diese Hilfe will und um sein eigenes Angewiesensein auf sie weiß: „Hungrige erfüllt Er mit Gütern, Reiche lässt Er leer ausgehen“ (Lk 1, 53). 

Auf der anderen Seite stellt das Bittgebet einen Akt des vollen Vertrauens auf Gottes Hilfe dar! Würde man Ihn nicht für jemand halten, der gerade in unserer höchsten Bedrängnis helfen kann, würde man zu Ihm auch nicht seine Zuflucht nehmen. Somit gereicht das Bittgebet auch zur Verehrung und zur Verherrlichung Gottes! Außerdem wollen wir nicht vergessen, dass wir uns auch mit mancherlei persönlichen Problemen und sittlichen Unzulänglichkeiten herumzuplagen haben, die in uns nicht die volle Wirkung der uns sonst vielfältig geschenkten Gnade Gottes entfalten lassen. 

Somit wollen wir die bevorstehende Fastenzeit in besonderer Weise nutzen, um den Herrgott im Gebet ausdrücklich um Seine Hilfe und Seinen Beistand in unserer Bemühung um die Heiligung des eigenen Lebens, um die Bekehrung der Sünder und die Verbreitung Seines Reiches und um die Wiederherstellung der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche zu bitten! Denn wer nicht betet, der traut Ihm entweder keine Hilfe zu. Oder er ist blind, weil er nicht die Situation richtig erkennt und einschätzt. Oder er ist ganz einfach arrogant, weil er meint, alles selbst richten zu können.

 

P. Eugen Rissling

 

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