Wo ist Autorität heute


Teil 1

Die Reformbegeisterung

Nachdem wir die Frage nach dem Wesen und dem Zweck der kirchlichen Autorität erörtert haben, wollen wir uns nun einer kurzen Analyse der heutigen kirchlichen Situation zuwenden. Vor über 30 Jahren ging das „Zweite Vatikanische Konzil“ zu Ende, das im Gefolge des „Reformgeistes“ von Johannes XXIII. und Paul VI. zahlreiche Änderungen in Lehre, Liturgie und Leben der katholischen Kirche einleitete. Diese Änderungen haben in der Folgezeit noch weitere „Vertiefungen“ erfahren und besitzen einen großen Einfluß auf den Glauben und die religiöse Praxis der Gläubigen. 

Niemand, der in den letzten Jahrzehnten die Entwicklungen in der katholischen Kirche (Amtskirche) aufmerksam verfolgte, kann leugnen, daß sich in ihr ziemlich viel verändert hat. Denn die „Reformen“, die stattfanden, sind teilweise so grundlegend und einschneidend gewesen, daß sich nicht nur das äußere Erscheinungsbild der Amtskirche in der Öffentlichkeit, sondern auch ihr inneres geistiges Leben stark veränderte, was auch für die Außenstehenden nicht unbemerkt blieb. Diese “Gesichtsveränderung” der heutigen “katholischen” Amtskirche ist nur die notwendige Folge des Wandels dem Wesen nach. 

Das Schlagwort, mit dem alles eingeleitet wurde, hieß „aggiornamento“. Man wollte die Kirche für die Welt öffnen, sie sollte durch Veränderung und Anpassung den Bedürfnissen dieser Welt entsprechen. Man wollte eine „menschlichere Kirche“ haben. Daß sich allerdings nicht Gott den Menschen, sondern umgekehrt die Menschen dem unveränderlichen und heiligen Willen Gottes anzupassen haben, fiel bei aller Reformbegeisterung praktisch unter den Tisch. Und so erfand man einen “Gott”, der den Interessen der Menschen zu dienen habe. Allein wenn man sich schon die Titel der vor 3-4 Jahrzehnten veröffentlichten theologischen Literatur anschaut, entsteht der Eindruck, als hätte man damals mit dem kirchlichen Umbruch ein neues Zeitalter eingeleitet gesehen, als hätte man sich in einem Rausch, im Reformrausch befunden, dem alles und jedes zum Opfer fallen mußte. Man wollte etwas Neues, etwas bis dahin nie Dagewesenes schaffen, endlich sei man zum richtigen Verständnis der Absichten Jesu Christi vorgedrungen! 

Auf diesem Hintergrund erscheint das von Paul VI. geprägte Wort vom „Neuen Pfingsten“ nicht zufällig. Man muß sich in allem Ernst die ganze Tragweite dieses zwar äußerst populären1, aber nichtsdestoweniger völlig unchristlichen Schlagwortes vor Augen führen: es bedeutet, daß (den betreffenden Personen) das „alte“ Pfingsten, die Herabkunft des lebenspendenden Geistes Gottes auf die junge Kirche, nicht genügte! Man kann sich drehen und wenden wie man will; an der Feststellung, daß es sich dabei letztendlich um eine gottverleugnende, apostatische Äußerung handelt, führt kein Weg vorbei. Denn wenn man die Wirksamkeit des hochheiligen Pfingstfestes schmälert, leugnet man auch die Gottheit des Heiligen Geistes! Das Erschreckende dabei ist, daß die Verantwortlichen es nicht bloß bei (diesen) verbalen Äußerungen bewenden ließen, sondern (in ihrer verkehrten Gesinnung!) die Kirche mit “Taten” zu “reformieren” anfingen! Es begann tatsächlich ein neuer Geist zu wehen, nur kann es sich dabei keinesfalls um den Heiligen Geist, den Geist Gottes, handeln, es sind schon eher andere Geister heraufbeschworen worden, die man (auch wenn man wollte) nicht mehr so leicht loswird! 

Bekannt ist die Reaktion von Johannes XXIII. auf die Frage eines Bischofs nach dem Sinn und Zweck des Vatikanums II., dessen Einberufung er, Johannes XXIII., angekündigt hatte. Johannes XXIII. soll zum Fenster gegangen sein und es wortlos geöffnet haben, was mit der Notwendigkeit der Erneuerung der sich im betreffenden Raum befindenden Luft (gemeint war die Kirche) gedeutet werden muß. An diesem Beispiel sieht man noch deutlicher den grundsätzlichen Fehler, der begangen wurde und der der heutigen “Kirche” zum Verhängnis wurde. 

Ja, die Kirche muß sich erneuern, und zwar ständig erneuern. Manches an ihr war nicht in Ordnung und daher auch überholungsbedürftig: bei manchen ihrer Kinder war das religiöse Leben zur leblosen Tradition, zur rein gewohnheitsmäßigen religiösen Praxis erstarrt, vielerorts fehlte es an fester Überzeugung, religiöser Innerlichkeit und christlicher Tatkraft. Aber die Erneuerung der Kirche hat in Jesus Christus, in der ununterbrochenen Rückbesinnung auf Seinen Geist und Seine Lehren zu geschehen. Die Kirche kann ihre Kraft nur aus der lebendigen, bewußt gelebten Beziehung zu ihrem göttlichen Haupt schöpfen, der die einzige Quelle jeglicher Gnade ist! Johannes XXIII. wollte mit seiner symbolischen Geste statt dessen, neue Impulse für die geistige Reform der Kirche von draußen, von der Welt erhalten, die sich aber nach den eindeutigen Aussagen des Evangeliums in Sünde und Gottesferne befindet. Ein Priester sagte diesbezüglich einmal sehr treffend: man wollte, daß frische Luft in die Kirche kommt, statt dessen aber wurde sie mit den stickigen Abgasen dieser Welt verpestet. (Was hat man denn auch sonst von der Welt erwarten können?) Ja, man vergaß ganz geflissentlich, daß die Kirche nur aus und in Jesus Christus leben kann: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5)! Die Anbiederung an die Welt wirkt sich dagegen immer nur negativ aus, gerade auf die Kirche. 

Bezeichnend für die nachkonziliare Entwicklung ist auch der Umstand, daß beim Versuch der Rechtfertigung der „Reformen“ ständig nur auf die Verlautbarungen dieses „Konzils“ verwiesen wird. Heute wird immer nur gesagt, was das Vatikanum II. gelehrt habe, Zeugnisse aus früherer Zeit werden kaum angeführt. Es scheint, als hätten die Befürworter der „Reform“ außer dieser Bischofsversammlung nichts anderes, worauf sie sich berufen könnten. Ebenfalls entsteht der starke Eindruck, als hätte bei den modernen Gläubigen und bei der Priesterschaft die katholische Kirche in der Zeit vor dem Vatikanum II. das meiste falsch gemacht! Wenn dieser Umstand kein Gewicht besitzt... ! 

 

Konkrete “Reformen”

Der mentalen Kursänderung, die schon für sich allein genommen den Katholiken der 60-er Jahre hätte genügen müssen, erhöhte Wachsamkeit an den Tag zu legen und sich verstärkt auf den überlieferten katholischen Glauben (weil das göttliche Leben vermittelnd!) zu besinnen, folgten nun zum noch größeren Leidwesen der Kirche ganz konkrete Änderungen in Lehre und Praxis. Dadurch wurden die “Reformen” nicht nur als wünschenswert dargestellt, sondern auch tatsächlich durchgeführt, wodurch der Abfall der heutigen Amtskirche von der katholischen Kirche (aller Zeiten) in und durch die Tat vollzogen wurde! Der häufig zu vernehmende Einwand, diese Feststellung übertreibe mit der Analyse der heutigen kirchlichen Situation, verharmlost in verhängnisvoller Weise die entstandenen Gefahren und nimmt letztendlich auch die Realität Gottes und den Anspruch der göttlichen Wahrheit an den Menschen nicht ernst genug! 

Zuerst wäre festzustellen, daß kein einziges Gebiet (!) vom Eifer der emsigen „Reformer“ verschont geblieben ist: die sog. Liturgiereform, die sämtliche Riten umfaßte - praktische Haltung vor Gott; das ständige Umdeuten oder sogar direktes Leugnen der göttlich geoffenbarten Glaubenswahrheiten - Glaubenslehre; das neue Kirchenrecht, das zahlreiche „Erleichterungen“ mit sich brachte - Gesetzgebung; die sich weiterschleichende Verharmlosung der christlichen Moral durch die Priesterschaft - Moral. Von Zufall oder von einer ohne Absicht erfolgten unglücklichen Entwicklung kann doch im Ernst keine Rede sein. Sonst hätte man nicht an alles und jedes die Hand angelegt! Diese traurige Entwicklung stellt etwas dar, was in der katholischen Kirche, die auf die Treue zum überlieferten Glaubensgut bedacht war, bis dahin nie da gewesen ist. Nicht einmal die Reformation des 16. Jahrhunderts ist damit zu vergleichen, denn damals wehrte sich die Kirche gegen die “Neuerungen”. Hinter jeder Veränderung muß aber immer eine bestimmte Absicht der Betreiber dieser Reformen angenommen werden, sonst hätte man ja nicht eine grundlegende und allumfassende „Erneuerung“ bezweckt und betrieben. Es muß also angenommen werden, daß auch von den für die heutige kirchliche Misere Verantwortlichen ganz bestimmte Ziele verfolgt wurden und noch weiterhin verfolgt werden! 

Am schwerwiegendsten und weitreichendsten wirkte sich in der Kirche die neuzeitliche sog. Liturgiereform aus, weil sie das Herzstück der Kirche traf - die Anbetung Gottes! Auch aus den in unseren “Beiträgen” bereits veröffentlichten Aufsätzen über die Liturgie können wir die immense Bedeutung des Heiligen Opfers für das Leben der Kirche ermessen: durch das Meßopfer erweist die Kirche dem heiligen und dreieinigen Gott die höchste Verehrung, derer die Menschen überhaupt fähig sind; aus ihm erneuert sie zugleich auch ihr eigenes Leben, indem sie aus diesem Bundesopfer die für ihr eigenes Wirken nötige Kraft und Gnade Gottes schöpft. Somit ist sie voll und ganz auf das Opfer des Altares angewiesen, mit ihm steht und fällt die Existenz der Kirche! Man kann sich nun in etwa vorstellen, was mit der Kirche passiert, wenn sie sich nicht mehr im Besitz dieses göttlichen Opfers befinden sollte. Zur Zeiten der (äußeren) Verfolgung hat die Kirche immer den größten Wert auf die Ermöglichung der Zelebration der Hl. Messe gelegt, auch unter noch so widrigen Umständen. Weiß man, um was es sich bei der Liturgie handelt, lernt man sie auch zu schätzen! 

Und die heutige Amtskirche hat dieses heilige Opfer selbst aufgegeben, nicht ist sie dazu etwa durch eine weltliche Macht gezwungen worden. Dieser Verzicht erfolgte ganz freiwillig, er wurde sogar mit Begeisterung und unter Jubeltönen vollzogen. Man muß sich angesichts dieser erschreckenden Tatsache im klaren sein, wie sehr bei den Katholiken die Wertschätzung des Meßopfers gesunken und das Wissen um seine enorme Bedeutung für das Leben der Kirche und des einzelnen Gläubigen verschwunden war! Mit der sog. Liturgiereform wollte man (angeblich) ein besseres Meßverständnis erzielen und eine verständlichere Liturgie schaffen. Was ist aber tatsächlich erreicht worden? Trotz neuzeitlicher “Aufklärung” durch die modernen Theologen weiß heute kaum jemand (im Unterschied zu früheren Generationen!), was die Messe ist bzw. sein soll. An die Stelle dieses unbefleckten Opfers des Neuen Bundes wurde nun eine Art protestantischer Mahlfeier gesetzt. Die inhaltliche Annäherung an das “reformatorische” Liturgieverständnis ist nicht zu verkennen, was nicht nur nicht geleugnet wird, sondern sogar als eine “Errungenschaft” der sog. Liturgiereform angepriesen wird. So wurde der Opfergedanke in sträflicher Weise stark zurückgedrängt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt und der Priester zum bloßen “Vorsteher der Gemeinde” umfunktioniert. Wenn heute überhaupt noch vom “Leib des Herrn” gesprochen wird, dann versteht auch die neue Generation der Priesterschaft darunter in der Regel kaum mehr als ein “heiliges Brot”, dem nur symbolische Bedeutung zukommt. 

Die kirchliche Hierarchie soll ja - wie wir bereits darlegten - zum Glauben an Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, und an Sein Erlösungswerk führen. Wenn aber Johannes Paul II. als der höchste Repräsentant der modernen “Amtskirche” wiederholt behauptet, daß die Moslems, die die Gottheit und wahre Gottessohnschaft Christi entschieden leugnen, an “denselben Gott” wie die Christen glauben würden2, dann stellen diese Äußerungen nicht nur ein nachlässiges Versäumen der ersten und zentralsten Aufgabe der kirchlichen Hierarchie dar. Nein, wenn er im klaren Widerstreit zu entgegengesetzten Äußerungen unseres göttlichen Erlösers (Joh 8,39-47, 53-56) lehrt, die Juden, die Jesus Christus entschieden ablehn(t)en und dem schmachvollen Tod am Kreuz auslieferten, seien “unsere älteren Brüder im Glauben Abrahams”, dann verhindert er sogar durch sein aktives Mitwirken, daß die Menschen zum Glauben an Jesus Christus kommen! Auf derselben Linie liegt auch die unzulässige Aufwertung verschiedenster heidnischer Religionen, die von dem höheren römischen Klerus als ordentliche Wege zum Heil präsentiert werden. Es sei hier nur an das Gebetstreffen der Religionen in Assisi im Jahre 1986 erinnert. Die Taufe verliert ihre Heilsnotwendigkeit, wenn sie nur als ein äußerer Aufnahmeritus in das Christentum angesehen wird. Die Aufzählung der durch die amtskirchlichen Instanzen begangenen Vergehen gegen den Glauben kann fast beliebig fortgesetzt werden. 

 

Schlußfolgerungen

In der Vergangenheit beschäftigte sich die Kirche (notgedrungen) mit der Frage nach ihrem Verhältnis zu kirchlichen Amtsträgern, die eine der vielen göttlich geoffenbarten Glaubenswahrheiten leugneten. Die heutige “Reform” stellt eine ganz andere Dimension der häretischen Bewegungen dar: es geht dabei um sämtliche Bereiche der christlichen Religion! Es wurden bzw. werden - um in einem Bild zu sprechen - nicht (nur) einzelne Elemente ausgewechselt, sondern der Glaube als solcher demontiert. Die ganze Fragestellung wird zu einer gesamtkirchlichen Problematik. Somit müssen wir heute die Frage etwas anders formulieren: kann denn eine ganze religiöse Gemeinschaft mit sich identisch bleiben, wenn sie nicht nur ihr eigenes Gesicht (nach außen hin) grundlegend verändert, sondern auch den radikalen Umschwung in der eigenen Substanz vollzieht? Diese Frage muß klar mit einem “Nein” beantwortet werden! Daraus ergeben sich weitreichende und für viele Katholiken ziemlich ´unbequeme´ Schlußfolgerungen! 

Wenn die heutige “katholische” Amtskirche nicht (mehr) die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche ist, dann können folgerichtig auch ihre einzelnen “Amts”-träger keine Autorität (mehr) im Sinne der alleinseligmachenden Kirche unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus ausüben und kein katholisches Kirchenamt innehaben! Dies gilt für sie übrigens schon allein wegen der Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft, die sich zu Unrecht “römisch-katholische Kirche” nennt. Wenn eine Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit prinzipiell gegen die vorgegebenen Ziele handelt und dadurch ihr eigenes Fundament verläßt, dann kann natürlich auch der einzelne Leiter dieser Gruppe keine Amtsausübung im ursprünglich gedachten und vorgegebenen Sinn praktizieren. So kann auch kein “Papst”, “Bischof” oder “Priester” der Amtskirche ein wahrer (Ober)hirt der römisch-katholischen Kirche sein! Sollte ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft auch persönlich Handlungen in Wort oder Tat begehen, die im Widerspruch zum (wahren) katholischen Glauben stehen, dann unterstreicht es noch zusätzlich und in erschwerender Weise seine Zugehörigkeit zu dieser Pseudokirche.

Somit müssen wir unter Berufung auf die Hl. Schrift und die gesamte kirchliche Tradition und im Anschluß an die Sedisvakanzerklärung von Erzbischof Ngo-Ding-Thuc v. 1982 feststellen, daß die heutige offizielle Amts-”Kirche” nicht (mehr) die römisch-katholische Kirche aller Jahrhunderte ist, daß seitens des modernistischen Rom keine gesunde kirchliche Autorität ausgeübt wird, und daß zur Zeit alle kirchlichen Ämter, auch das höchste Amt eines Papstes, nicht besetzt sind. Es herrscht der traurige Zustand der Sedisvakanz! Diese Feststellung erfolgt um der unveränderlichen Wahrheit und des ewigen Heiles der Gläubigen willen. 

 

P. Eugen Rissling



1Es gehört nicht zu den Aufgaben der kirchlichen Amtsträger, durch irgendwelche spitzfindige Redewendungen für Aufsehen in den Massenmedien zu sorgen oder (oberflächliche) Begeisterung bei den Menschen hervorzurufen - sie sollen viel mehr die Wahrheit Christi unverkürzt verkünden! .
2Ansprache vom 14.02.82 in Nigeria;Ansprache vom 20.08.85 in Marokko;Ansprache vom 07.09.89

 

 

Zurück Hoch Startseite