Das wahre Jerusalem!

Im Buch des Propheten Isaias gibt es eine wunderbare Stelle, die in bestimmter Hinsicht ebenfalls als typisch messianisch, als auf den kommenden Messias hinweisend, bezeichnet werden kann. Es ist jener Abschnitt, welcher von der Römischen Kirche im (überlieferten) Messformular des Festes der Erscheinung des Herrn (6. Januar) als Lesung genommen wird.
“Auf! Werde Licht, Jerusalem! Siehe, es kommt dein Licht; die Herrlichkeit des Herrn ging strahlend auf über dir. Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; über dir aber geht der Herr (als Sonne - Anm.) auf, und Seine Herrlichkeit erscheint in dir. Völker wandeln in deinem Licht und Könige im Glanz deines Aufgangs. Erhebe deine Augen und schaue ringsum: sie sammeln sich und kommen zu dir; deine Söhne kommen aus der Ferne, und deine Töchter erheben sich von allen Seiten. Da wirst du schauen und vor Freude überströmen; staunen wird und weit werden dein Herz, wenn zu dir kommt die Fülle des Meeres, wenn der Völker Schätze zu dir wandern. Kamele in Fülle überfluten dich, Dromedare aus Madian und Epha; sie alle kommen von Saba mit Gaben von Gold und Weihrauch, laut kündend das Lob des Herrn” (Is 60,1-6).

Es ist offenkundig, dass die katholische Kirche diesen Schriftabschnitt wohl deswegen für das betreffende Fest ausgewählt hat, weil in ihm in prophetischer Weise die Pilgerschaft heidnischer Völker zur Krippe des neugeborenen Jesuskindes angekündigt wird. Denn im Unterschied zu den Hirten auf dem Feld bei Bethlehem, welche von einem “Engel des Herrn” zur Krippe herbeigerufen worden sind (vgl Lk 2,8-14), waren die drei “Weisen aus dem Morgenland” keinesfalls Juden, sondern Angehörige nichtjüdischer, heidnischer Völker! Deswegen heißt ja auch dieses Fest “Erscheinung des Herrn”, weil an diesem Tag daran erinnert wird, dass Jesus Christus über das jüdische Volk hinaus allen Völkern dieser Welt als der wahre Messias und Erlöser des Menschengeschlechtes erschienen ist!

Aber wollen wir jenen Schriftabschnitt im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt hin untersuchen, welcher heute nicht nur nichts von seiner Bedeutung verloren hat, sondern umso aktueller geworden ist. Es ist nämlich die Frage, an welches “Jerusalem” sich denn der Prophet hier wendet!

Normalerweise geht man fast wie selbstverständlich davon aus, dass unter dem Sammelbegriff “Jerusalem” zunächst immer das alttestamentarische Volk Israel gemeint ist. So ja auch beim ersten eher oberflächlichen Lesen unseres Isaiastextes. Dann stellt man bei “Jerusalem” nicht selten auch den Bezug zum jetzigen Staat Israel bzw. zu den gegenwärtig wo auch immer in der Welt lebenden Juden her. Zweifelsohne ist dieses politisch-ethnische “Jerusalem” in der Stelle Is 60,1-6 ebenfalls angesprochen.

Nur fällt auf, dass der prophetische Seher hier den Blick sowohl von Anfang an als auch wie selbstverständlich auch auf ein Phänomen richtet, welches mit diesem konkreten irdischen “Jerusalem” überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist. Es ist nämlich die unmissverständliche Zugehörigkeit der aus der damaligen Sicht heidnischen Völker zum “Jerusalem” des Isaias! Und gerade dies ist dem irdischen ”Jerusalem” nicht nur ein Dorn im Auge, sondern sogar ein richtiger Skandal.

Hat man ja seitens der “frommen” Juden zur Zeit Jesu keinen Umgang mit den Heiden gehabt. Hat man ja auf sie wie von oben herabgeschaut und sie voll Verachtung behandelt. Hat man sich ja für etwas Besseres gehalten und gedacht, man sei schon allein wegen der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk den anderen haushoch überlegen. So wunderte sich ja die Samariterin am Jakobsbrunnen nicht wenig, dass Jesus sie angesprochen und um einen Trunk gebeten hatte: “Wie? Du, ein Jude, bittest mich, eine Samariterin, um einen Trunk?” (Joh 4,7-9) Sicherlich hat die Tatsache, dass Jesus eine solche Art von geistigem Rassismus entschieden bekämpfte und nichts allein auf die biologische Abstammung von Abraham setzte (vgl. Joh 8,31-59), ebenfalls dazu beigetragen, dass Er von der führenden Schicht des damaligen “Jerusalem” abgrundtief gehasst und dann von ihr der Wahrheit und der Gerechtigkeit zum Hohn dem Tod überliefert wurde.

Isaias aber spricht hier von einem “Jerusalem”, zu welchem die so genannten Heidenvölker nicht nur in Massen pilgern werden, sondern welches in der prophetischen Endzeit auch wie selbstverständlich aus diesen Völkern bestehen wird! Bezeichnenderweise wird dieses “Jerusalem” sogar richtig “vor Freude überströmen; staunen wird und weit werden dein Herz”, wenn es erlebt, dass die Völker dieser Erde zu ihm pilgern und “laut das Lob des Herrn” künden! Dies ist ein nicht zu übersehender krasser Unterschied (!) zu dem auf ein einziges Volk beschränkten jüdischen “Jerusalem”, welches seine “Privilegien” wie seinen Augapfel hütete und auf keinen Fall mit den anderen Völkern teilen wollte.

Und man beachte unbedingt auch die Gleichheit der Rechte und der Zugehörigkeit zum “Jerusalem” des Isaias, welcher sich alle Völker ohne irgendeinen Unterschied erfreuen! Es wird hier jene Wahrheit ausdrucksstark vorweggenommen, von welcher der hl. Apostel Paulus später so eindrucksvoll schreibt: “Da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden. Ein und derselbe ist der Herr aller, und Er ist für alle reich, die Ihn anrufen. Denn ´jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden´” (Röm 10,12f); “Wir alle sind durch die Taufe in einem Geist zu einem Leib geworden: ob Juden oder Heiden, Sklaven oder Freie. Wir sind alle mit einem Geist durchtränkt” (1 Kor 12,13)!

Somit muss dieses “Jerusalem” in seiner personellen Zusammensetzung wesentlich mehr darstellen als nur die biologisch-ethnischen Angehörigen des jüdischen Volkes. Und auch was dessen grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung angeht, darf es nicht mehr ausschließlich um das verkrampfte Festhalten an deren vermeintlichem Besser- und Privilegiertsein, an deren letztendlich einzigem Erwähltsein vor Gott gehen!

Über das von Isaias eigentlich gemeinte messianische “Jerusalem”, zu welchem, wie gerade dargelegt, zweifelsohne auch die (aus der Sicht der Juden) heidnischen Völker, die “Heiden”, gehören, geht ja bezeichnenderweise “die Herrlichkeit des Herrn strahlend auf”. Aber “Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker”. Es können somit unter diesen “Völkern” bei Isaias nicht die “Heiden” verstanden werden, wie sie nämlich im Alten Testament definiert werden.
Also liegt unserem Isaiastext ein anderes, ein neues Verständnis sowohl zunächst des Begriffs “Heiden” als auch dann des Begriffs “Jerusalem” selbst vor! Denn mit den uns aus der jüdischen Religion überkommenen Inhalten dieser beiden Begriffe “Heiden” und “Jerusalem” ist die Prophetie von Is 60,1-6 überhaupt nicht richtig und adäquat zu verstehen. Aber welches “Jerusalem” hat denn hier Isaias konkret im Sinne?

Nun, es ist klar ersichtlich, dass seine Worte von seiner Grundkonzeption eine Prophetie, eine von Gott inspirierte Schilderung endzeitlich-messianischer Verhältnisse ist. Und wegen dieses evidenten messianischen Charakters dieser Schriftstelle muss die Antwort auf die gerade gestellte Frage dann wohl auch in den Worten Jesu Christi bzw. in den Texten des Neuen Testamentes gesucht werden.

Bestätigt werden wir in dieser Annahme gerade durch die Ausführungen Jesu in der bereits erwähnten Stelle Joh 8,31-59, wo Jesus im Streitgespräch mit den Juden diesen den rechtmäßigen Anspruch, geistig (!) Kinder Abrahams zu sein, mit allem Nachdruck abspricht. Im Gegenteil, Jesus bezeichnet dort nicht nur den “Teufel” als deren (geistigen) Vater (8,44), sondern bezieht sich sogar ausdrücklich auf Abraham als einen Zeugen für Sich: “Abraham, euer Vater, freute sich darauf, Meinen Tag zu sehen. Er sah ihn und frohlockte” (Joh 8,56)!

Aber vor allem in den letzten beiden Kapiteln der Geheimen Offenbarung des hl. Apostels Johannes wird ein klarer Bezug zwischen dem Neuen “Jerusalem” und der von Jesus Christus gestifteten Kirche, der katholischen Kirche, hergestellt! Zwar ist dort zunächst die Rede von der “heiligen Stadt Jerusalem”, wie sie sich nämlich in der so genannten Endzeit nach dem Jüngsten Gericht präsentieren wird. Aber da ja diese Endzeit mit der Geburt Christi auf Erden bereits angebrochen ist (“In dieser Endzeit hat Er durch Seinen Sohn zu uns gesprochen” - Hebr 1,2), vollzieht sich auch in der Kirche Christi in mancherlei Hinsicht die reale bzw. sakramental-mystische Vorwegnahme der vorausverkündeten prophetischen Ereignisse! Außerdem wird ja die Kirche auch sinngemäß als Braut Christi bezeichnet (“heilig und makellos”), für welche Er Sein kostbares Blut vergossen hat, um sie sich “strahlend rein, ohne Flecken, ohne Runzeln oder dergleichen” zu bereiten (vgl. Eph 5,25-27).

In der Tat ist nicht zu übersehen, dass Johannes in seinem apokalyptischen Buch von demselben neuen “Jerusalem” schreibt, welches etliche Jahrhunderte zuvor auch Isaias gemeint hatte: “Er (ein Engel - Anm.) sprach zu mir: ´Komm, ich will dir die Braut zeigen, die Gattin des Lammes.´ Und er entrückte mich im Geiste auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie aus dem Himmel von Gott herabkam, in der Herrlichkeit Gottes. ... Die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine, auf denen zwölf Namen, die Namen der zwölf Apostel des Lammes geschrieben standen” (Offb 21,9-10.14).

Somit wird immer offenkundiger, dass Isaias unter seinem “Jerusalem”, zu welchem nämlich alle Völker pilgern würden, wohl jene Institution verstanden wissen wollte, welche der am Kreuz mit der Lanze durchstochenen Seite Christi gewissermaßen entströmt ist: die (katholische) Kirche! Er schaut bewusst über den engen Rand des jüdischen Volkes hinaus und erblickt ein zur Kirche Jesu Christi versammeltes Volk, welches in dem einen Glauben an Ihn, den göttlichen Erlöser des Menschengeschlechtes, geeint ist, im Bad der Taufe geistig wiedergeboren wurde und durch die übrigen heiligen Sakramente ständig am wahren übernatürlichen Leben erhalten wird!

Sie, diese Kirche, ist das Neue und himmlische “Jerusalem”, in welchem alle Völker ihren ihnen zustehenden Platz finden, und in welchem das “Licht” beherbergt ist, welches eine jegliche “Finsternis” der Gottesferne und ein jegliches “Dunkel” der Sünde vertreibt. Die Kirche “strömt” (im Unterschied zum alten “Jerusalem”!) wirklich “vor Freude über”, wenn jene Völker, welche das “Lamm” bisher noch nicht erkannt und anerkannt haben (“Heiden” nach christlichem Verständnis), letztendlich doch zu diesem ihrem göttlichen Bräutigam “wallfahren” und Ihm ihre Gaben der Umkehr und der geistigen Neuausrichtung ihres Lebens in Christus darbringen!

Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang, dass das Fest der Erscheinung des Herrn in früherer Zeit mancherorts sogar einen noch höheren Stellenwert besessen hat als das hochheilige Weihnachtsfest selbst. Man war sich also der heilsgeschichtlichen Bedeutung dieses Festes sehr wohl bewusst!

Gegenwärtig wird nicht nur in der Politik, sondern bedauerlicherweise auch im offiziellen kirchlichen Bereich viel dafür getan, nicht in den Ruf zu kommen, etwa als “antisemitisch” eingestuft und verschrieen zu werden. Und obwohl natürlich ein jeglicher klassischer Rassismus und somit auch der auf reiner Rassentrennung gründender Antisemitismus ebenfalls eindeutig abzulehnen und zu verurteilen ist, muss dennoch gefordert werden, dass es auch keine falsche Scheu oder ungerechte und übertriebene Rücksichtnahme auf die Angehörigen der jüdischen Religion (und somit auch des jüdischen Volkes) geben darf!

Seit gewisser Zeit wird in der postkonziliaren Amtskirche ein Kurs gefahren, der nur als eine unzulässige Anbiederung an das Judentum umschrieben werden kann. In den offiziellen Texten begann dieser Schmusekurs bereits mit dem Vatikanum II., als in der “Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen” überproportional viel (!) über das “gemeinsame geistliche Erbe” der “Christen und Juden” ausgeführt wurde, ...und zugleich kaum ein Wort einer klaren Kritik zum Beispiel an der entschiedenen Ablehnung Jesu Christi als des göttlichen Messias durch das Judentum anzutreffen ist! Auch lässt sich darin keine Spur von der unmissverständlichen Feststellung Christi an die Adresse der Ihn umgebenden Juden finden: “Darum sage Ich euch: Das Reich Gottes wird euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt” (Mt 21,43)!

Und so dann die ganze Zeit weiter! So haben zum Beispiel sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. ihrer großen Freude über ihren jeweiligen Besuch einer Synagoge (in Rom bzw. in Köln) Ausdruck verliehen. Und immer nur Lobsprüche über Lobsprüche auf das Judentum und die Hervorhebung seiner (vermeintlichen) Besonderheit! Wo aber bleibt das notwendige sachliche Wort der Feststellung zum Beispiel darüber, dass der Alte Bund nicht nur sinn- und bedeutungslos ist ohne die Erfüllung der Prophezeiungen in Jesus Christus, sondern dass er durch das Sterben Christi am Kreuz darüber hinaus sogar ganz aufgehört hat zu existieren (vgl. 2 Kor 3,14)? “Der Vorhang des Tempels riss” ja bezeichnenderweise “mitten durch” (Lk 23,45)!

Und dann der skandalöse Besuch Ratzingers in der Kölner Synagoge, worüber wir im Artikel “Joseph Ratzinger in der Kölner Synagoge” (“Beiträge”/64) bereits berichtet haben. Und nun noch die ausdrückliche Leugnung der Notwendigkeit einer christlichen Mission unter den Juden durch “Kardinal” Karl Lehmann mit der damit verbundenen Behauptung, das Judentum würde eine “für sich berechtigte Lesart alttestamentlicher Traditionen” darstellen! (Vgl. dazu die Artikel “Keine Umkehr und keine Taufe mehr notwendig?” in “Beiträge/65/67 bzw. “Grenze der Mission?” in “Beiträge”/68.)

Wir aber wollen Gott danken, dass Er uns “aus allen Völkern unter dem Himmel” (vgl. Apg 2,5) ausgewählt und zum Neuen und eigentlichen “Jerusalem” - dem “Jerusalem” der betreffenden Isaias-Prophezeiungen - berufen hat, obwohl wir dies an sich natürlich nicht verdient haben! Die Kirche ist der wahre Berg Sion, auf welchem sich uns der Dreifaltige und Dreieinige Gott offenbart und zugleich von uns, den Christen, “im Geiste und Wahrheit” angebetet und verherrlicht wird (vgl. Joh 4,23)!

Denken wir aber auch daran, dass die Kirche, obgleich sie zum Beispiel in ihrer Liturgie oft die Terminologie des Alten Bundes verwendet (welcher sich natürlich auch das Judentum bedient), diese aber dennoch keinesfalls im verengten alttestamentarisch-jüdischen Verständnis interpretiert wissen will. Nein, die wahre katholische Kirche lässt nämlich diese Terminologie keinesfalls vom Judentum einseitig in Beschlag nehmen - dieser schicksalhafte Fehler unterläuft leider den Modernisten viel zu oft (!) -, sondern bemüht sich um die Erfassung ihres eigentlichen Sinnes - sie lässt sie somit im Geist und im Licht ihrer ursprünglichen göttlichen Inspiration erstrahlen!

Seien wir uns also unserer großen Berufung stets bewusst und rufen wir uns die übernatürliche Anmut und die geistige Schönheit der wahren und göttlichen Stadt “Jerusalem” in Erinnerung: “Der Thron Gottes und des Lammes ist in ihr, und Seine Knechte beten Ihn an. Sie schauen Sein Antlitz und tragen Seinen Namen an ihrer Stirn. Nacht gibt es nicht mehr. Man braucht weder Lampen- noch Sonnenlicht. Gott der Herr erleuchtet sie. Und sie herrschen in alle Ewigkeit” (Offb 22,3-5)!

P. Eugen Rissling

 

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