Karl der Große - Erneuerung des abendländischen Kaisertums

  Nach dem Tod Pippins 768 hatten seine Söhne Karl und Karlmann die Regierung übernommen. Bevor noch offene Streitigkeiten zwischen den Brüdern ausbrechen konnten, verstarb Karlmann (771) und Karl wurde alleiniger Erbe des Reiches seines Vaters. Was sich schon in Chlodwig angebahnt hatte, die Hinwendung Roms zu den Karolingern, fand nun in Karl seinen Höhepunkt. Sie sollte für das weitere Schicksal der Kirche von entscheidender Bedeutung sein – ganz besonders durch Karls Kaiserkrönung, die ihn auf eine Ebene mit dem oströmischen Kaiser stellte.
● Auf Betreiben von Karls Mutter, die versucht hatte, die Langobarden mit den Karolingern auszusöhnen, war es zur Vermählung von Karl und der Tochter des Langobardenkönigs Desiderius gekommen. Aus uns nicht ganz bekannten Gründen trennte sich Karl aber wieder von der Prinzessin. Verständlicherweise reagierte Desiderius äußerst erzürnt und versuchte, den Papst zu einem Bündnis gegen Karl zu bewegen. Dieser aber war klug genug zu sehen, dass eine Feindschaft mit den Karolingern in der Zukunft dem Papsttum nichts Gutes bringen würde und lehnte das Verlangen des Desiderius ab. Dieser zog darauf mit seinem Heer gegen Rom. Hilfesuchend wandte sich der Papst an Karl, der auch unverzüglich aufbrach und in Italien erschien. Es kam zum Krieg und im Jahre 774 gelang es Karl, das Langobardenreich völlig zu vernichten.
Noch während der Belagerung Pavias, der Hauptstadt der Langobarden, erneuerte Karl dem Papst gegenüber die Schenkungsversprechen, die sein Vater Pippin diesem gegeben hatte. Allerdings dauerte es noch bis 781, dass Karl diesem Versprechen vollständig nachkam. Erst jetzt übergab er dem Papst den Dukat von Rom und den Exarchat von Ravenna, die Pentapolis und die Sabina sowie das südliche Tuszien und einige andere kleine Gebiete. Der Kirchenstaat war endgültig geschaffen. Er existierte bis 1870. Den Teil Italiens südlich von Rom, also die Herzogtümer Benevent und Spoleto, die Karl 787 eroberte, behielt er für sich, um seine Herrschaft über Italien zu sichern.
Karl erstrebte mit der Ausdehnung seines Reiches nicht nur persönliche Machterweiterung, sondern war wenigstens zum Teil wirklich daran interessiert, den Menschen das Christentum zu bringen. Er war sich dessen bewusst, dass Einheit und innerer Friede im Reich nur durch einen einheitlichen Glauben auf Dauer garantiert werden könne. Auch wusste er, welch große Verantwortung er als der mächtigste Herrscher des Abendlandes hatte, die Kirche Gottes zu schützen. Dies beweisen seine vielzitierten Worte an Leo III.:
Unsere Aufgabe ist es, die heilige Kirche Christi überall nach außen hin vor dem Ansturm der Heiden und vor der Verwüstung durch die Ungläubigen mit den Waffen zu schützen und nach innen durch die allgemeine Anerkennung des katholischen Glaubens sie zu sichern. Eure Aufgabe ist es, wie Moses mit zu Gott erhobenen Händen unseren Kriegsdienst zu unterstützen, damit das christliche Volk auf Eure Fürbitte hin stets überall den Sieg über seine Feinde davontrage.”
Lortz drückt das Denken, das Karl bestimmte, folgendermaßen aus: „Die Verbindung von religiösen und politischen Erwägungen zur Verwirklichung einer Reichseinheit beruht auf der elementaren Erkenntnis, dass die tiefste Kraft der Menschen und der Völker die Religion ist; dass darum tiefe politische Einheit nur da möglich ist, wo Einheit der Religion ihr die Unterlage und die Weihe gibt“ (Lortz, DDr. Joseph, Geschichte der Kirche, Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, 1950, S. 129).
In diesem Sinne der Ausdehnung und Festigung des Reiches und in der Bemühung, ein auch religiös einheitliches Reich zu errichten, kämpfte Karl 778 gegen die Araber in Spanien und errichtete 795, um die hier zurückeroberten Gebiete zu sichern, die Spanische Mark (das Pyrenäengebiet bis Zaragoza und Tortosa). 789 kämpfte er gegen die Slaven, ein paar Jahre später auch gegen die Awaren, 805/06 gegen die Böhmen, 808-811 gegen die Dänen; am härtesten und längsten war sein Krieg gegen die Sachsen (722-804). Ihm sei hier etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
● Die Sachsen, deren Gebiet sich von der Elbe und Saale bis an den Rhein erstreckte, waren beim Tod des hl. Bonifatius der einzige noch ganz heidnische deutsche Volksstamm. Sie fielen immer wieder ins Reich Karls ein und stellten so eine Gefahr für die noch junge Einheit der Germanen unter der Vorherrschaft der Franken dar. Außerdem schwächten sie die Ostgrenze des Reiches und störten so die Schutzzone gegen die vom Osten andrängenden Slaven.
Karl versuchte daher, durch einen Zug gegen die Sachsen auch diese in sein Reich einzugliedern. Dabei spielten zunächst religiöse Ziele noch keine Rolle – bei ersten Friedensschlüssen mit den Sachsen ist von Taufe und Mission noch keine Rede.
Bald schien er sich aber dessen bewusst geworden zu sein, dass ein vereinigtes Reich ohne eine geistig-religiöse Einheit auf Dauer nicht bestehen könne, denn er begann – zum Teil durch nicht zu rechtfertigende Gewaltanwendung – die Sachsen missionieren zu lassen.
Die ersten blutigen Auseinandersetzungen ereigneten sich 772, als das sächsische National-Baum-Heiligtum, die Irminsul, fiel. 776  kam es dann zum Friedensschluss; die sich unterwerfenden Sachsenführer boten sich und ihre Gefolgschaft zur Taufe an. Trotzdem erhoben sich immer wieder Aufstände, die von Witukind angeführt wurden. Ein erneuter Sieg Karls 779 ermöglichte die Wiederaufnahme der kirchlichen Arbeit und die Mission machte bis zum Unglücksjahr 782 erhebliche Fortschritte.
In diesem Jahr überfielen die Sachsen das fränkische Heer, das gerade gegen die Slaven marschierte – was ja auch Sicherheit für die Sachsen selber bedeutete. Diesen Verrat rächte Karl durch die Hinrichtung von 4500 Sachsen bei Verden. Da es sich dabei um Vergeltung für politische Treulosigkeit handelte und da von niemand verlangt wurde, sein Leben durch die Taufe zu erkaufen, kann man hier kaum von Martyrertod auf Seiten der Sachsen oder einem Missionsakt von Seiten Karls sprechen. Dennoch war es „eine schmachvolle Tat, die eines Christen und noch mehr eines Christenfürsten tief unwürdig ist. Er beging eine Grausamkeit, die sein Bild bis heute befleckt und der Sache des Christentums schwer geschadet hat“ (Lortz, S. 131).        
Auf das Ereignis von Verden folgte natürlich offener Aufstand – im gesamten Land, wieder unter Leitung Witukinds. Dieser wurde durch den endgültigen Sieg Karls 785 beendet. Im selben Jahr ließ Witukind sich taufen. Das war natürlich ein außerordentlicher Erfolg und bestimmend für die weitere Bekehrung der Sachsen – die nur 100 Jahre später Träger des neuen, deutschen Kaisertums werden sollten. Natürlich werden wir nie endgültige Gewissheit erlangen, ob Witukind seine Taufe auch innerlich vollzog oder sich dazu nur durch die fränkische Übermacht genötigt sah. Allerdings muss man zugeben, dass seine bisherigen Leistungen von außerordentlichem Heldenmut zeugten und er auch bisher bewiesen hatte, dass er lieber sein Leben im Kampf  riskierte, als sich dem Christentum zu beugen. Auch ist festzustellen, dass er bei seiner Entscheidung geblieben ist und sich nicht zu einer Teilnahme an den bis 804 weiterhin stattfindenden Aufständen hat hinreißen lassen. Diese Tatsachen können wenigstens als Hinweis dafür dienen, dass seiner äußeren Bekehrung eine Erkenntnis der wahren Religion wenn nicht vorausging, so doch wenigstens folgte. Alles in allem muss aber festgehalten werden, dass die Erfolge der Mission weitestgehend auf die Gewaltanwendung Karls zurückzuführen sind – es also doch wenigstens zum Teil eine Schwertmission war. Seinen Höhepunkt erreichte diese Bemühung Karls, als er die Mission dadurch sichern wollte, dass er auf Taufverweigerung, Verletzung des Fastengebotes, auf Leichenverbrennung und Kirchendiebstahl die Todesstrafe setzte.
Derartiger Gewissenszwang kann natürlich keinesfalls gutgeheißen werden. So wandten sich denn auch Papst Hadrian, Alkuin (Karls angelsächsischer „Unterrichtsminister“, der die Bildung der englischen Kirche ins Frankenreich brachte) und fränkische Bischöfe gegen Karls Vorgehen.
Bei aller Grausamkeit, mit der Karl die Mission durchführen ließ, dürfen wir aber nicht aus dem Auge verlieren, welche Befreiung die neue Lehre des Christentums für die damaligen Menschen gewesen sein muss. Bisher hatten sie in Angst und Schrecken den unzähligen verschiedenen Dämonen geopfert, die jeden Bereich des Lebens erfüllten und bestimmten und deren erbarmungsloser Macht die Menschen hilflos ausgeliefert waren. Das Christentum erzählt diesen Menschen nun von einem Gott, der ein einziger ist, der mächtiger ist als diese Dämonen, der Himmel und Erde erschaffen hat, der auch der Schöpfer jedes einzelnen Menschen ist. Die Schöpfung, der die damaligen Menschen noch viel näher waren, muss sie gelehrt haben, was für ein Gott dieser Gott ist – allmächtig, Ehrfurcht einflößend, voll Ruhe, schön und klar. Dazu kam der Bericht, dass dieser Gott Seinen Sohn gesandt hat, um Seine Geschöpfe zu erlösen, dass Er also sehr besorgt ist um sie, dass er sie liebt.
● Im Jahre 799 geriet Papst Leo III. in Bedrängnis. Die Nepoten seines Vorgängers warfen ihm Meineid und Ehebruch vor. Er wurde während einer Prozession überfallen und konnte sich nur durch Hilfe von Getreuen retten. Er eilte nun zu Karl, der sich gerade in Paderborn aufhielt. Karl ließ den Papst zunächst nach Rom geleiten. Im November 800 kam er dann selber in die Ewige Stadt, um die Angelegenheit zu regeln. Da aber nach altem Brauch der Papst durch niemand gerichtet werden darf, beschloss man, dass der Papst in einem feierlichen Eid sich von den wider ihn erhobenen Anklagen reinigen sollte. Zwei Tage nach diesem Reinigungseid des Papstes, am Weihnachtsfest des Jahres 800, erschien dann der Frankenkönig mit seinem Gefolge zum feierlichen Gottesdienst in der Peterskirche. Da trat der Papst auf ihn zu und setzte ihm die Kaiserkrone aufs Haupt. Nach Einhard, Karls Biographen, wurde der neue Kaiser von dieser Krönung unliebsam überrascht. Es ist aber kaum vorzustellen, dass Karl völlig nichtsahnend war. Verhandlungen müssen diesem Akt des Papstes vorangegangen sein. Der Grund für Karls Missmut war wohl eher die Tatsache, dass der Papst mit seiner Handlung die Befugnisse überschritt, die ihm Karl wenige Jahre zuvor mit dem Bild vom betenden Moses zugewiesen hatte. Der Papst vermittelte den Eindruck, er selber verleihe die Kaiserwürde des Imperium Romanum. In Ostrom regierte Irene als Kaiserin. Eine Frau als Kaiser war aber sowohl eine nie da gewesene Einmaligkeit als auch rechtlich bedenklich. Daher hielt man auch in Rom das byzantinische Kaisertum für erloschen und glaubte, es wieder nach Westrom zurückholen zu können. Es lag also nahe, dass sich in Karl der Verdacht regte, der Papst glaube, er selber habe das Kaisertum zu vergeben.
Karl dagegen war ein fränkisch-abendländisches Kaisertum vor Augen gestanden, das gleichberechtigt neben dem oströmischen stand. In Wirklichkeit dauerte es aber eine ganze Weile, bis Karl von Byzanz als Kaiser anerkannt wurde. Erst im Jahre 812 gestand Michael I. ihm ein Zweitkaisertum im Westen zu.
Zwei Jahre später, 814, starb Karl d. Gr. in Aachen und wurde dort im Münster beigesetzt.
● Karl hatte bei der Verwirklichung seiner Idee eines geeinten Abendlandes das Werk des hl. Augustinus “De civitate Dei” vor Augen, das er sich übrigens auch bei Tisch vorlesen ließ. Er wollte ein reiches religiös-kirchliches und kulturelles Leben begründen.
Auch wusste er, dass für ein gutes Volk ein gutes Priestertum von Nöten war. So war ihm die Reform der Kirche ein wichtiges Anliegen. Er erließ Reichsgesetze, die die Erneuerung der Kirche regeln sollten. Königsboten beaufsichtigten ständig nicht nur das staatliche, sondern auch das kirchliche Leben.
Politisch war Karl den anderen Großmächten wie Byzanz oder dem Reich der Araber nun gewachsen. Dieser Stellung musste aber auch die geistige Bildung der Bevölkerung entsprechen. Dazu schuf Karl Schulen. Die meisten sollten nur die elementaren Kenntnisse vermitteln. Andere hatten höhere Ziele; sie stellten eine Art Akademie oder Seminar für den geistlichen Nachwuchs dar.
Karls Vorstellung von einem christlichen Kaisertum war stark geprägt von der byzantinischen Kaiseridee. Wie der Kaiser von Konstantinopel sah sich Karl als der Hüter der Kirche. Und nicht nur das, er war auch der Herr der Reichskirche. In seiner Regierung war göttliches und weltliches aufs Engste verbunden. So griff er auch in die innersten Angelegenheiten der Kirche, ja selbst in die Glaubensstreitigkeiten ein, besetzte Bistümer und Abteien, wobei er allerdings auf tüchtige und würdige Männer achtete, er berief und leitete Reichssynoden und schärfte Bischöfen und Priestern ihre Pflichten ein.
Allerdings kann man bei Karl kaum von Staatskirchentum oder Cäsaropapismus sprechen, da er sich des inneren Unterschiedes zwischen beiden Gewalten wohl bewusst war. Für ihn stand die geistliche Gewalt sogar in gewissem Sinne höher als die weltliche, da letztere ja wiederum nur die Aufgabe hatte, der ersteren äußeren Schutz zu gewähren. Auch ließ er sich bei seinem Handeln mehr vom Pflichtbewusstsein gegen die Kirche als von persönlichem Machtstreben leiten. So war für ihn sein Eingreifen in die Angelegenheiten der Kirche nur eine Erfüllung der Pflichten, die ihm als König und dann als Kaiser von Gott übergeben worden waren. Wie gesagt – er versuchte einen Staat, wie ihn Augustinus in “De civitate Dei” zeichnet, zu realisieren. Ein Reich der sittlichen Ordnung, in welchem Gerechtigkeit und Friede unter dem von Gott bestellten geistlichen und weltlichen Oberhaupt herrschen.
Die zwei Punkte, die für Karl charakteristisch sind, sind also erstens die Überzeugung, dass wahre Autorität nur von Gott ausgehen und nur in Gott begründet sein kann und dass der König bzw. der Kaiser genauso wie der Papst eine von Gott zugewiesene Aufgabe hat. Er ist von Gott eingesetzt, die Menschen dem Willen Gottes gemäß zu regieren und sie dazu zu erziehen, dem Willen Gottes gemäß zu leben. Daher müssen seine Regierung und seine Gesetze auch dem Willen Gottes – den Zehn Geboten – entsprechen. Er ist verantwortlich auch für den moralischen Zustand des Volkes. Hier überschneiden sich die Bereiche des Papstes und des Kaisers und hier muss und wird es auch immer wieder zu Reibungen kommen. Zweitens ließ er sich von der Absicht leiten, ein einheitliches Reich herzustellen, und von der Erkenntnis, dass wahre Einheit nur bestehen kann, wenn eine Einheit in der Religion gegeben ist. Wir heute leben in einer Gesellschaft, in der Religion den Stellenwert einer Einrichtung besitzt, die man wählen kann wie man will, wann man will und wenn man will, die nicht zum Leben selber gehört, sondern die man nur wahlweise zu den anderen Aktivitäten, die angeblich das eigentliche Leben ausmachen, hinzufügt. Aber Religion ist Verbindung aufnehmen und Verbundensein mit Gott. Es gibt nur einen Gott und jeder von uns ist Geschöpf dieses einen Gottes. In der Erkenntnis dieses Gottes und im Leben mit diesem Gott allein liegt die wahre Erfüllung des Menschen. Daher ist die Frage und Suche nach Gott und somit die Frage nach der Religion auch von wesentlicher Bedeutung für den Menschen, daher kann es wahre Einheit unter den Menschen und somit unter den Völkern auch nur in der gemeinsamen Annahme des einen wahren Gottes geben. Auf dieser Erkenntnis ruhte Karls Bemühung, eine Einheit in der Religion unter den Völkern herzustellen, um auf dieser Basis ein einheitliches Abendland zu schaffen.
● Auch heute versuchen die Menschen, Europa zu vereinigen. Interessanterweise werden Personen, die sich in besonderer Weise um diese Vereinigung verdient gemacht haben sollen, seit 1950 mit einem Preis geehrt, der den Namen Karls d. Gr. trägt – dem Karlspreis. Jährlich findet in Aachen seine Verleihung statt. Wenn man sieht, welchen Personen er verliehen wurde und wie die Begründungen für die Verleihung lauten, merkt man aber, dass die heutige Idee von Europa sich von der Karls wesentlich unterschiedet. Man versucht nicht mehr, die äußere Einheit aus der geistigen Einheit im Christentum heraus wachsen zu lassen und sie darin zu begründen.
Zunächst auffällig ist die Tatsache, dass Frère Roger, dem Gründer und Prior der evangelischen Ordensgemeinschaft Taizé, 1989 der Karlspreis verliehen wurde. Die Basis für Europa heute ist also nicht mehr eine wirkliche geistige Einheit in der von Gott offenbarten Wahrheit, sondern eine nur vorgetäuschte Einheit im Nebeneinander der verschiedenen Religionen, die als gleichwertig und gleichgültig hingestellt werden. Auf Gleichberechtigung von Wahrheit und Irrtum lässt sich aber keine wahre Einheit aufbauen und erreichen.
In dem Text für die Verleihung an den ungarischen Schriftsteller und Soziologen György Konrád, die im Vergleich zu den übrigen Urkunden und Dokumenten der Idee einer auf dem Glauben basierenden Einheit verhältnismäßig nahe kommt, ist zu lesen:
“Hier kommt der Kultur als pragmatischster Ebene der Begegnung und des Austauschs eine besondere Bedeutung für das “Gemeinsame Haus Europa” zu. Europa ist ein kulturpolitisches Ganzes, vereint durch das gemeinsame Erbe des Christentums, aber auch der besonderen europäischen Impulse der monotheistischen Religionen des Judentums und des Islams, der Renaissance und der Aufklärung sowie der großen philosopischen und sozialen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts. In diesem kulturellen Erbe liegt ein enormes Potential für eine Politik des Friedens, der Verständigung und der gutnachbarlichen Beziehungen. Kultur ist auch ein Mittel zur Einübung der Demokratie, deren Wurzel wir in Europa haben. Sie schafft menschliche Verbindungen, weckt Toleranz für andere Kulturen und für andere Menschen” (Hervorhebungen durch den Verfasser).
Man meint erst, es wird hier von einem im Christentum geeinten Europa gesprochen – merkt aber bald, dass auch hier wieder die Grundlage für Europa ein Gemisch der verschiedensten Religionen und Philosophien ist.
Außerdem ist zu einem großen Teil die geistige Komponente komplett verloren gegangen. In den Begründungen und Urkunden für die Überreichung des Karlspreises wird viel gesprochen von “Würdigung seines unermüdlichen, zielstrebigen Einsatzes für die politische und wirtschaftliche Vereinigung Europas” (Urkunde für die Überreichung des Preises an Jacques Delors, Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften) oder von “Europäische Einheit, deren Stärke auf Freiheit und Unabhängigkeit, auf politischer und sozialer Verantwortung gegenüber der Welt und geistiger Strahlung aus vielfältigen reichen Quellen beruht” (Don Salvador de Madariaga, spanischer Politiker). Von Religion oder gar von Gott ist da kaum die Rede. Vielmehr scheint das Projekt Europa ein Versuch der Menschen zu sein, aus eigener Kraft – durch politische, wirtschaftliche und soziale Bemühungen – ein rein diesseitiges, materialistisches „Paradies“ zu errichten. Es fehlt jede Ausrichtung und jeder Ausblick auf das Jenseits.
Der Versuch des Menschen, Friede und Einheit zu schaffen – zum Beispiel durch Bildung größerer Völkerbündnisse, wie die Europäische Union – ist an sich zu begrüßen.
Wenn diese Einheit aber nicht auf der Wahrheit aufbaut, d.h. wenn nicht geistige Einheit in der Wahrheit des katholischen Glaubens Grundlage dieses Gebäudes ist, dann ist ein solches Werk von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie sagt doch der Psalmist so schön:
“Baut der Herr nicht das Haus, so müh'n sich umsonst, die dran bauen” (Ps. 126)!

P. Johannes Heyne

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